Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Jenseits der Industriegesellschaft

 
Dienstleistungen werden immer wichtiger, aber viele sind wenig produktiv. Das schadet uns allen. Ihre Produktivität zu steigern ist eine zentrale Aufgabe, um zu höherem Wirtschaftswachstum und höheren Zinsen zu gelangen.
 
 
 

In Deutschland spielt die Industrie, und hier vor allem die Automobilindustrie und ihre Zulieferer, traditionell eine sehr große Rolle, und so findet ihr Wohlergehen besondere Aufmerksamkeit. Die schlechten Nachrichten aus der Industrie erklären denn auch, warum sich der vielbeachtete Geschäftsklima-Index des Ifo-Instituts auf seinem niedrigsten Stand seit April 2013 befindet und die deutsche Wirtschaft nach ersten Schätzungen im zweiten Quartal des laufenden Jahres vermutlich nicht gewachsen ist. Sollten die internationalen Handelskonflikte eskalieren, dürfte darunter vor allem die exportlastige deutsche Industrie leiden.
 
Auf lange Sicht dürfte der Wohlstand Deutschlands wie das anderer traditioneller Industrieländer aber vor allem von der wirtschaftlichen Leistungskraft der Dienstleistungen abhängen. Denn die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Dienstleistungen wächst und wächst. Heute arbeiten im Durchschnitt der Industrienationen rund 70 Prozent der Beschäftigten im Dienstleistungsgewerbe – Tendenz steigend. Die aktuell gute Nachricht lautet: Es ist vor allem das Dienstleistungsgewerbe, das sich im Moment noch einigermaßen robust zeigt und verhindert, dass die deutsche Wirtschaft in eine Rezession stürzt.
 
Auf lange Sicht ist die wachsende Bedeutung der Dienstleistungen, in denen sich der allmähliche Wandel traditioneller Industriegesellschaften in moderne Wissensökonomien spiegelt, aber nicht ohne Herausforderungen. Denn im Durchschnitt der Industrienationen liegt die Arbeitsproduktivität in den Dienstleistungen rund 40 Prozent unter jener in der Industrie, und es besteht die Gefahr einer Vergrößerung dieser Kluft, wenn sich die Trends aus der Vergangenheit fortsetzen. Leider ist das jährliche Wachstum der Arbeitsproduktivität in den Dienstleistungen deutlich geringer – und da die Bedeutung der Dienstleistungen für die gesamte Wirtschaft zunimmt, verlangsamt sich damit das Wachstum der Arbeitsproduktivität in der Gesamtwirtschaft. Hier liegt ein Grund für die bescheidene wirtschaftliche Dynamik, die in der jüngeren Vergangenheit in vielen Industrienationen konstatiert wird und zu niedrigen Zinsen beiträgt.
 
Wie erklären sich diese Trends? Die im Vergleich zur Industrie niedrigere Produktivität der Dienstleistungen wird häufig mit geringeren Möglichkeiten einer Automatisierung begründet. Lehrer, Krankenpfleger und Friseure lassen sich, zumindest bis heute, nicht so leicht durch Roboter ersetzen wie Fabrikarbeiter. Zudem sind viele Märkte für Dienstleistungen – wieder ließe sich der Friseur anführen – lokaler Natur, was oft den Wettbewerb beschränkt.
 
Häufig lässt sich für Dienstleistungen sinnvoll auch gar keine Produktivität berechnen, weil sie nicht auf privaten Märkten angeboten werden. Wie könnte man die Produktivität des Militärs messen, wie die Produktivität des staatlichen Bildungswesens und wie die Produktivität in der Krankenpflege?
 
Während der raschere Produktivitätsfortschritt in der Industrie die Produktion mit immer weniger, aber dafür besser bezahlten Arbeitnehmern gestattet, führen die steigenden Einkommen der Arbeitnehmer zu einer wachsenden Nachfrage nach personalintensiven Dienstleistungen.
 
Die durch steigenden Wohlstand getriebene Nachfrage ist nicht der einzige Grund für das Wachstum der Dienstleistungen. Unternehmen investieren immer mehr in sogenanntes immaterielles Kapital wie Markenrechte, Software oder die Qualifikation ihrer Mitarbeiter, weil sie sich hiervon höhere Renditen versprechen als von Investitionen in traditionelles industrielles Sachkapital wie Fabriken und Maschinen. Zudem sorgt die Alterung der Gesellschaft für eine steigende Nachfrage nach Dienstleistungen zum Beispiel in der Altenpflege.
 
Vom allgemeinen Trend zu höheren Einkommen profitieren auch viele Dienstleistungsberufe, obgleich deren Produktivität sich nicht so einfach steigern lässt: “Irgendwann wird es schwierig, die Zeit zu reduzieren, die notwendig ist, um bestimmte Aufgaben auszuführen, ohne dabei gleichzeitig die Qualität zu reduzieren. Wer versucht, die Arbeit von Chirurgen, Lehrern oder Musikern zu beschleunigen, hat gute Chancen, eine verpfuschte Operation, schlecht ausgebildete Schüler oder ein merkwürdiges Konzert zu bekommen”, beschrieb der amerikanische Ökonom William Baumol (1922 bis 2017) ein Phänomen, das in der Wirtschaftstheorie als “Kostenkrankheit” bekannt geworden ist.
 
Heißt dies nun, dass der Übergang von Industriegesellschaften zu stark durch Dienstleistungen geprägte moderne Wissensökonomien notwendigerweise mit niedrigem Wirtschaftswachstum, niedrigen Zinsen und, in vielen Fällen, niedrigen Löhnen einhergeht? Das ist nicht der Fall. Die Dienstleistungen eint zwar, dass sie im Unterschied zu Gütern immateriell sind. Aber es gibt sehr unterschiedliche Dienstleistungen und darunter auch solche, bei denen die digitale Revolution deutliche Produktivitätssteigerungen verspricht, zum Beispiel in der Informationstechnologie. Außerdem sind Automatisierungseffekte auch da möglich, wo man sie bisher nicht erwartet hätte, zum Beispiel durch autonomes Fahren.
 
Die Frage nach der nachhaltigen Steigerung der Produktivität im Dienstleistungsgewerbe kann durchaus zu einer wirtschaftlichen Schicksalsfrage der nächsten Dekaden werden, weil sie wesentlichen Einfluss auf das Wirtschaftswachstum und das Zinsniveau nehmen dürfte. Ein Arbeitspapier aus der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) befasst sich unter anderem mit der Frage, wie die Politik diesen Prozess sinnvoll begleiten kann. Und hier spielt, auch gestützt auf Erfahrungen aus den Vereinigten Staaten, eine Kategorie der Wirtschaftspolitik eine Rolle, die lange Zeit zu wenig Beachtung gefunden hat: die Wettbewerbspolitik.
 
Denn im Zeitalter der digitalen Plattformwirtschaft stellt sich die Frage nach der wirtschaftlich sinnvollen Ausbreitung technischer Innovationen, wenn wichtige Plattformen unter der Kontrolle monopolartiger Giganten von der amerikanischen Westküste stehen. Allein die Idee von Facebook, eigene Plattformen für die Verbreitung einer neuen privaten Währung (“Libra”) mit potentiell mehreren Milliarden Kunden zu nutzen, zeigt das Machtpotential der Herren aus dem Silicon Valley.
 
Weitgehend unbestritten ist die Aufgabe der Politik, durch die Flexibilisierung von Arbeits- und Produktmärkten die Voraussetzungen für Innovationen und ihre Verbreitung zu schaffen. Eine Aufgabe besitzt der Staat auch, wenn es darum geht, Menschen, die als Folge der Automatisierung ihren bisherigen Job verlieren, Unterstützung für eine neue berufliche Qualifikation zu leisten.