Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Das Kreuz mit der Kinderarbeit

Wer Kinderarbeit verbietet, muss die Familien anderweitig ernähren.

© ALfons HoltgreveIllustration

Die Zahlen sind erschreckend. 168 Millionen Kinder mussten im vergangenen Jahr auf der ganzen Welt arbeiten. 44 Prozent der Mädchen und Jungen waren höchstens elf Jahre alt, schätzt die Weltarbeitsorganisation (ILO). Das waren zwar deutlich weniger Kinder als noch zu Beginn der Jahrtausends, doch das Problem bleibt akut. Denn in Teilen Asiens, der Pazifikregion und in der Subsahara ist Kinderarbeit noch immer Normalität. Die Folgen sind schwerwiegend, mehr als die Hälfte der minderjährigen Arbeiter verdient ihr Geld laut ILO mit Tätigkeiten, die ihre Gesundheit oder psychische Entwicklung gefährden. Sie schuften also zum Beispiel in Steinbrüchen oder als Prostituierte.

Kinderarbeit gehört verboten, daran besteht kein Zweifel. Aber können Verbote das Problem tatsächlich beheben? Eine jüngst veröffentlichte Studie eines amerikanischen Forschertrios weckt Zweifel. Die Ökonomen, die die Folgen eines gesetzlichen Verbots in Indien untersucht haben, kommen zu dem Schluss, das Gesetz habe das Problem der Kinderarbeit in armen Familien sogar noch verschlimmert. In bestimmten Altersstufen gingen Kinder nach dem Verbot häufiger arbeiten und seltener zur Schule. Das heiße im Umkehrschluss nicht, dass man Kinderarbeit besser erlauben sollte. Doch im konkreten Fall sei das Verbot ineffektiv gewesen. “Und auch langfristig kann es die verkehrten Folgen haben”, fassen die Forscher zusammen.

Prashant Bharadwaj (University of California, San Diego), Leah Lakdawala (Michigan State University) und Nicholas Li (University of Toronto) stoßen mit ihrer Untersuchung in eine Lücke. Denn obwohl Wirtschaftswissenschaftler schon lange darüber streiten, ob Gesetze gegen Kinderarbeit den gewünschten Effekt haben, gibt es kaum empirische Erkenntnisse. Um das zu ändern, werteten die Forscher staatlich erhobene Statistiken zur Kinderarbeit in den Jahren 1983, 1987 und 1993 aus. Der erste Messzeitpunkt lag vor der landesweiten Einführung des Child Labor (Prohibition and Regulation) Act im Jahr 1986, die beiden weiteren Zeitpunkte danach. Der Child Labor Act war nicht das erste Verbot von Kinderarbeit in Indien. Doch weil er weitreichender als vorherige Regeln war, wird er oft als Startpunkt für das staatliche Vorgehen gegen Kinderarbeit angesehen. Er verbietet in einer Reihe von Berufen, Kinder unter 14 Jahren zu beschäftigen. Arbeitgebern, die dagegen verstoßen, drohen hohe Geldbußen oder mehrmonatige Gefängnisstrafen.

Die Auswertung zeigt, dass ausgerechnet die Kinder, die geschützt werden sollten, unter dem Gesetz litten. Zwar arbeiteten Kinder im Alter von 6 bis 17 Jahren im beobachteten Zeitraum insgesamt seltener. Der Anteil fiel von 14,8 Prozent im Jahr 1983 auf 11,7 Prozent im Jahr 1993. Doch ausgerechnet die Kinder im Alter von 10 bis 13 Jahren arbeiteten nach dem Verbot häufiger. In Familien mit mehreren Kindern in diesem Alter stieg die Wahrscheinlichkeit um 5,6 Prozent, schreiben die Autoren. Die Mehrarbeit ging auf Kosten der Schulbildung. In den besonders betroffenen Haushalten würden die Schulbesuche beinahe im gleichen Maße abnehmen, wie die Arbeit zunimmt. Die Forscher stießen zudem darauf, dass die ohnehin armen Familien nach dem Verbot noch weniger Geld für Lebensmittel ausgeben konnten. “Anhand verschiedener Messungen des Konsums und der Ausgaben folgern wir, dass Verbote zu einem geringen Wohlfahrtsverlust in diesen Haushalten führen”, schreiben die Ökonomen.

Warum das Gesetz diese unerwünschte Wirkung entfaltet, liegt für die Forscher auf der Hand. Das Verbot schafft für Arbeitgeber die Gefahr, erwischt und bestraft zu werden. Kinderarbeit wird für sie unattraktiver, sie sind nicht mehr bereit, die ursprünglichen Stundenlöhne zu zahlen, und bieten Kindern nur noch geringere Löhne. In der westlichen Wohlstandswelt wäre zu erwarten, dass die Nachfrage der Arbeiter daraufhin sinkt. In einer Gesellschaft, in der die Ärmsten jede Rupie zum Überleben brauchen, sei das anders. Familien müssten ihre Kinder noch häufiger zur Arbeit schicken, damit sie trotz gesunkener Löhne genug zum Essen haben. Für die These der Forscher spricht, dass die Löhne der indischen Kinder im Beobachtungszeitraum laut der Statistik tatsächlich gesunken sind.

Aus den Ergebnissen folgt, was viele Entwicklungshelfer seit Jahren betonen: Verbote ohne gleichzeitige Hilfen sind wirkungslos. Aber was sind die richtigen Maßnahmen? In einem gemeinsamen Projekt von Weltbank, Unicef und ILO versuchen Dutzende Forscher diese Frage zu beantworten. Ein wirksames Mittel sei es, bedürftigen Familien schlicht und einfach Geld zukommen zu lassen, stellten zwei Ökonomen der Universität Rom in einer der Projektstudien fest. “Es gibt breite Hinweise darauf, dass Geldtransfers (…) sowohl das gesamte Ausmaß als auch die Intensität von Kinderarbeit reduzieren”, schreiben die Forscher. Für den Verdacht, Transfers würden zweckentfremdet und könnten kontraproduktiv wirken, fanden sie in keiner der ausgewerteten Studien einen Hinweis.

Als wirksames Instrument haben sich zudem Programme entpuppt, die Kindern den Zugang zu Schulen ermöglichen. Unter anderem in Brasilien, Mexiko, Indien und Bangladesch bekommen Kinder seit mehreren Jahren in vielen Schulen ein kostenloses Mittagessen. Die Idee dahinter: Wenn Kinder in der Schule kostenlos essen können, kommen sie erst gar nicht in die Verlegenheit, für ihr Essen arbeiten zu müssen. Die empirischen Belege für den Erfolg überzeugen. 15 bis 40 Prozent mehr Kinder aus den betroffenen Familien gehen dank der Mahlzeiten zur Schule, schreiben die Entwicklungsökonomen Kaushik Basu und Zafiris Tzannatos in einem Beitrag für die World Bank Economic Review.

Allerdings gibt es offenbar nicht das eine wirksame Mittel gegen Kinderarbeit. Verbote, wirtschaftliche Entwicklung und Armutsbekämpfung müssen ineinander greifen – sonst vergrößert das, was gut gemeint ist, das Leid.