Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Droht in Europa eine säkulare Stagnation?

In der Eurozone ist eine Erholung der Konjunktur in Gang gekommen, aber das sagt noch nicht viel über die langfristigen Aussichten für das Wirtschaftswachstum aus. Ein Ökonom schlägt nun Alarm.

“Secular Stagnation” needs model, not blog posts. (John Cochrane)

 


1. Larry Summers startet eine Debatte

Dieser Blogbeitrag über säkulare Stagnation bedarf einer Einleitung. Das Thema, das schon vor dem Zweiten Weltkrieg der Ökonom Alvin Hansen erstmals erwähnte, wurde im Herbst 2013 auf einer Konferenz des Internationalen Währungsfonds von dem amerikanischen Ökonomen Larry Summers öffentlichkeitswirksam plaziert. Wie immer man zu der These einer langfristigen Wachstumsschwäche steht – Summers hatte offenbar den Nerv der Zeit getroffen, denn unmittelbar nach seiner Intervention begannen Ökonomen zunächst vorwiegend in Blogs über die Möglichkeit einer säkularen Stagnation zu diskutieren (Beispiele sind hier und hier und hier) 1). Auch auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos im Jahre 2014 spielte das Thema mit einem gewohnt aggressiven Larry Summers eine Rolle.

Auf der IWF-Konferenz brachte Summers einen säkularen Fall des gleichgewichtigen Realzinses, der Ersparnis und Investition bei Vollbeschäftigung ausgleicht (“natürlicher Zins”), unter die Nullgrenze ins Spiel: “Suppose that the short-term real interest rate that was consistent with full employment had fallen to -2% or -3% sometime in the middle of the last decade.  Then, what would happen?  Then, even with artificial stimulus to demand coming from all this financial imprudence, you wouldn’t see any excess demand.  And even with a relative resumption of normal credit conditions, you’d have a lot of difficulty getting back to full employment.” Vergessen wird gelegentlich, dass Summers seine These keineswegs als gesicherte Erkenntnis präsentierte: “Now, this may all be madness, and I may not have this right at all.”

Debattiert wird über säkulare Stagnation noch heute. Eine wichtige Frage lautet, ob längerfristig ein negativer natürlicher Zins überhaupt denkbar ist. Dann stellt sich die Frage nach den Ursachen eines solch niedrigen Zinses.2) Aber wahr ist auch, wie John Cochrane im Eingangszitat betont, dass komplizierte ökonomische Problemstellungen nicht durch Darstellungen und Diskussionen in Blogs gelöst werden, sondern durch wissenschaftliches Arbeiten.3) Als Summers das Thema aufwarf, existierte aber kein weithin akzeptiertes ökonomisches Modell, mit dessen Hilfe sich eine säkulare Stagnation erörtern ließ, denn in den anderen Modellen ließ sich kein längerfristig negativer natürlicher Zins begründen. Das Eine gehört aber zum Anderen.

 

2. Gauti Eggertsson und Neil Mehrotra betreten die Bühne

Die Sitation änderte sich im Jahre 2014 mit einer seitdem häufig diskutierten theoretischen Arbeit der beiden Ökonomen Gauti Eggertsson und Neil Mehrotra, in der sie eine Modellwelt schaffen, in der es zu einem negativen natürlichen Zins kommt. Um zu schildern, wie moderne Ökonomen arbeiten, beschreiben wir zunächst einmal ihr Modell in Grundzügen. Es handelt sich um ein Modell mit überlappenden Generationen, in denen drei Typen von Menschen leben und in dem ein positives Bevölkerungswachstum unterstellt wird:

Junge Menschen
Die jungen Menschen haben annahmegemäß kein Einkommen, sondern leben von Krediten, die sie bei der mittleren Generation aufnehmen. Für diese Kredite existiert eine (von den Autoren willkürlich angenommene) Obergrenze – modelltechnisch ist das eine sogenannte Friktion, die das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage beschränkt. Ohne diese Friktion käme es nicht zu einem negativen natürlichen Zins.

Menschen mittleren Alters
Die Menschen mittleren Alters haben annahmegemäß Einkommen und verleihen Geld an Jüngere, um Vermögen für ihr Alter zu generieren.

Ältere Menschen
Die älteren Menschen haben annahmegemäß kein Einkommen und leben vom Verbrauch ihrer Ersparnisse.

Das ist natürlich ein sehr rudimentäres Modell, aber nehmen wir einmal an, die jüngere Generation müsse ihr Kreditvolumen reduzieren. Damit wird ein “Deleveraging”, wie man es im Zuge der Finanzkrise zum Beispiel bei amerikanischen Konsumenten gesehen hat, simuliert. Danach kann die jüngere Generation weniger konsumieren und die mittlere Generation kann weniger sparen; der Zins wird negativ. Wichtig ist nun, dass in diesem Drei-Generationen-Modell kein Mechanismus existiert, der die Rückkehr zu einem positiven Zins erzwingt: damit ist die Möglichkeit eines dauerhaft negativen Zinses nachgewiesen:

“In our framework, however, no such return to normal occurs. Instead, a period of deleveraging puts even more downward pressure on the real interest rate so that it becomes permanently negative. The key here is that households shift from borrowing to saving over their lifecycle. If a borrower takes on less debt today (due to the deleveraging shock) then when tomorrow comes, he has greater savings capacity since he has less debt to repay. This implies that deleveraging – rather than facilitating the transition to a new steady state with a positive interest rate – will instead reduce the real rate even further by increasing the supply of savings in the future. The point here is not to predict that the natural rate of interest will necessarily remain negative indefinitely. Instead, in contrast to existing models, our model accommodates a negative natural rate of interest of arbitrary persistence that can, therefore, explain long-lasting slumps.”

Eggertsson/Mehrotra haben dann in mehrerer Hinsicht dieses rudimentäre Modell erweitert, um eine Welt mit negativem Zins mit einer dauerhaften wirtschaftlichen Stagnation zu verbinden. In diesem erweiterten Modell gibt es weitere Friktionen wie unflexible Löhne und eine Geldpolitik an der Nullzinsgrenze. In dieser Modellwelt untersuchen die beiden Autoren die Effekte von Geldpolitik und Finanzpolitik.

 Mit ihrem Papier haben Eggertsson/Mehrortra in der Fachwelt große Aufmerksamkeit erregt. Häufig wurde der innovative Charakter der Arbeit gelobt, aber es gibt auch Vorbehalte unterschiedlicher Art 5). “I think it’s an important paper… Important doesn’t mean right or conclusive.” (John Cochrane). Zum Beispiel bleibt der mittleren Generation in dem Modell keine andere Form der Kapitalanlage als die Vergabe von Krediten an die jüngere Generation. Der deutsche Ökonom Stefan Homburg vertritt die Ansicht, dass die Annahme eines längerfristig negativen Zinses nicht mehr zu halten ist, sobald Land als eine weitere Vermögensanlage zur Verfügung steht. Kurzum: Eggertsson/Mehrotra ist ein Schritt auf einem Weg, aber wohl nicht das Ende des Weges.

 

3. Juan F. Jimeno ist für Europa pessimistisch

Das Modell von Eggertsson/Mehrota hat der Ökonom Juan F. Jimeno nun in einer etwas veränderten Version zum Ausgangspunkt einer Analyse für die Situation in Europa gemacht und dabei ein langsames Bevölkerungswachstum und einen niedrigen Produktivitätszuwachs angenommen. Jimeno hat seine Doktorarbeit am angesehenen Massachusetts of Technology (MIT) geschrieben und arbeitet als Chefökonom der Banca d’Espana.

Seine Schlussfolgerung ist pessimistisch: “The Great Recession and the subsequent European crisis have left the European economy in a dismal situation. The legacy of these events (high public and private debt, high unemployment and competitiveness misalignments) will have to be addressed in a context of lower population ageing and uncertain productivity growth. The combination of the legacy and future demographic and economic prospects suggest that it is very plausible that the natural interest rate has fallen significantly, perhaps to a level that monetary policy is unable to accommodate, and may remain at that level for a long period in this constrained regime, there is a permanent shortfall of demand that pushes the economy into a high-unemploymnt trap.”

Nach Ansicht Jimenos besitzt die Politik nur einen Hebel, um den natürlichen Zins anzuheben: Das wäre eine Politik, die zu einem Wachstum der Produktivität führt. Insofern sieht auch Jimeno die Logik von Strukturreformen, die zu höherer Produktivität führen sollen. Allerdings ist der Spanier nicht der Ansicht, dass solche Reformen ausreichen, um die europäische Wirtschaft aus der Falle der säkularen Stagnation zu befreien. Das Problem einer zu niedrigen gesamtwirtschaftlichen Nachfrage bleibt.


4. Es gibt alternative Erklärungen

Eine nur langsame Erholung der Wirtschaft in den Industrienationen seit Ausbruch der jüngsten Krise ist unbestreitbar. Die durch die Annahme eines negativen natürlichen Zinses gekennzeichnete säkulare Stagnation ist jedoch nur einer neben vielen anderen Erklärungsversuchen, die sich nicht gegenseitig ausschließen und sich zum Teil überschneiden. Neben der Demographie und nachteiligen Folgen hoher Verschuldung werden genannt 4):

1. Der technische Fortschritt schlägt sich heute nicht vollständig in Produktivitätszuwächsen nieder. Das mag daran liegen, dass es Jahrzehnte dauern kann, bis grundlegender technischer Fortschritt umfassend die Wirtschaft ergreift. Es ist auch denkbar, dass sich in großen Unternehmen entwickelter technischer Fortschritt nur langsam auf kleinere Unternehmen auswirkt.

2. Es kann ein jahrelanges Politikversagen vorliegen; allerdings ist es schwierig, darüber Einigkeit zu erlangen. Viele Ökonomen dürften darin übereinstimmen, dass besonders in Europa Strukturreformen wichtig wären, um die Angebotsbedingungen der Wirtschaft zu verbessern. Ganz unterschiedliche Ansichten liegen zur Notwendigkeit und zur Ausgestaltung von Nachfragepolitik vor. Für manche Ökonomen ist die Geldpolitik in den vergangenen Jahren zu straff und für andere zu locker gewesen. Auch gehen die Ansichten über die Finanzpolitik in ähnlicher Weise völlig auseinander.

3. Das Wachstum kann langfristig unter Dysfunktionalitäten im Finanzsystem leiden. In Europa wäre in diesem Zusammenhang eine Unterkapitalisierung von Banken zu erwähnen, die sie an einer Kreditvergabe auch an gute Schuldner abhält. Die Schwäche der Banken wirkt besonders in einem Finanzsystem lähmend, in dem Kapitalmärkte eine geringe Rolle spielen. In einem solchen Umfeld kann die Förderung der Verbriefung von Krediten eine Möglichkeit sein.

4. Seit den achtziger Jahren wird nicht zuletzt mit Blick auf die hohe Arbeitslosigkeit in Europa ein Phänomen namens “Hysterese” erörtert; ein Co-Autor eines frühen wichtigen Beitrags war niemand anderes als Larry Summers. Gemeint ist die Beobachtung, dass nach einem Konjunktureinbruch das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigung lange nicht mehr das alte Niveau erreichen. Solche langfristigen Wohlfahrtseinbußen wurden für die Industrienationen kürzlich von dem amerikanischen Ökonomen Laurence Ball geschätzt. Mehrere Gründe können vorliegen. So geht in einer Rezession Humankapital verloren: Wenn Menschen lange arbeitslos sind, verliert ihre Qualifikation an Wert. Wenn dies dann nicht in der Lohnpolitik Berücksichtigung findet, kann sich die Arbeitslosigkeit perpetuieren. Diese Situation dürfte vor allem in Südeuropa zu beobachten sein. Aber auch die Bildung von Sachkapital und die Ausbreitung von technischem Fortschritt können nach einer Rezession zu langsam vonstatten gehen.

 

Einfache und allumfassende Erklärungen liegen nicht vor. Das Thema langsames Wirtschaftswachstum ist eine der vielen Baustellen in der Wissenschaft, auf denen findige Ökonomen noch viele Erkenntnisse generieren können.

 

——————————————————————

1) In FAZIT hatten wir das Thema säkulare Stagnation bereits mehrfach angesprochen, darunter hier und hier und hier.

2) Genannt werden unter anderem eine Ersparnisschwemme aus Schwellenländern, die demographische Entwicklung, eine wachsende Umverteilung von Einkommen und Vermögen sowie ein technischer Fortschritt, der zu fallenden Preisen für Kapitalgüter führt. Die einzelnen Erklärungen schließen sich gegenseitig nicht aus. In Deutschland wird die These eines negativen natürlichen Zinses vor allem von Carl Christian von Weizsäcker vertreten.

3) Deshalb kann auch dieser Beitrag nur das Thema vorstellen, aber er kann natürlich keine wissenschaftliche Arbeit ersetzen.

4) Eine Zusammenstellung mehrerer Erklärungsversuche stammt von Lo/Rogoff.

5) “Problem is, Samuelson-style OLG model and nominal rigidities are a terrible match” (Paolo Pesenti). Die bis heute sehr geläufigen Modelle mit überlappenden Generationen (“OLG model”) gehen auf den Nobelpreisträger Paul Samuelson zurück.