Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Mehr Abtreibungen – weniger Verbrechen

 

Abtreibungsgesetze haben ungeahnte Nebenwirkungen. 

 

Ein zehnjähriges Mädchen wird vergewaltigt. Es ist anschließend schwanger. Weil es in seiner Heimat, dem amerikanischen Bundesstaat Ohio, selbst in solchen extremen Fällen verboten ist, eine Schwangerschaft abzubrechen, muss das Mädchen in den Nachbarstaat Indiana reisen. Dort lässt es den medizinischen Eingriff vornehmen. Ein 27 Jahre alter Mann wird der Vergewaltigung angeklagt. US-Präsident Joe Biden zeigt sich wegen des Falls fassungslos und appelliert an das Mitgefühl: “Stellen Sie sich vor, wie es ist, dieses kleine Mädchen zu sein.”

Dieser Fall hat sich vor wenigen Tagen in den Vereinigten Staaten abgespielt. Amerikas Rechte ziehen ihn reflexhaft in Zweifel, Amerikas Linke sehen ihn als Beweis dafür, welch groteske Folgen der Urteilsspruch des Supreme Courts vom 24. Juni dieses Jahres hat. Das höchste amerikanische Gericht hat an jenem Tag das Grundsatzurteil “Roe gegen Wade” aus dem Jahr 1973 aufgehoben. Dieses Urteil hatte ein landesweites Grundrecht auf Abtreibung garantiert, was in den Bundesstaaten aber schon immer unterschiedlich gehandhabt wurde. Nun können Staaten wie Ohio Schwangerschaftsabbrüche weitgehend oder komplett verbieten.

Ob und unter welchen Umständen Abtreibungen legal sein sollten, ist keine ökonomische, sondern eine ethische Frage: Welche Rechte gesteht eine Gesellschaft ungeborenem Leben zu? Und wie wägt sie diese gegen den Wunsch schwangerer Frauen ab, kein Kind zur Welt zu bringen? Dennoch findet sich in der ökonomischen Literatur eine ganze Reihe von Studien zu dem Thema. Denn welche Regeln und Gesetze ein Staat in diesem Bereich beschließt, hat auch Folgen für die Gesundheit von Menschen, den Arbeitsmarkt und sogar für die Kriminalität.

Abtreibungen sind für viele ein Tabu und lassen sich daher nicht so einfach erforschen. Für Forscher ist es daher Gold wert, wenn Frauen, die abtreiben wollen, bereit sind, Auskunft zu geben – wie in der sogenannten Turnaway-Studie: 1000 amerikanische Schwangere, die sich mit dem Wunsch nach Abtreibung an eine medizinische Einrichtung gewandt hatten, gaben über Jahre hinweg immer wieder Auskunft zu verschiedenen Fragen. Bei einem Teil der Frauen wurde der Fötus abgetrieben, bei dem anderen Teil war das nicht möglich, weil die Schwangerschaft schon zu weit fortgeschritten war. Die Motive der Frauen waren vielfältig: 40 Prozent gaben an, sich ein (weiteres) Kind nicht leisten zu können. Fast ebenso viele hielten den Zeitpunkt in ihrem Leben für schlecht. Jede fünfte Frau fürchtete negative Folgen für ihre Ausbildung und Karriere. Ein Drittel hielt den Partner für nicht ideal.

Belege aus der Erhebung zeigten, dass Frauen, denen eine Abtreibung verweigert wurde, “eine schlechtere Gesundheit und höhere Armutsquoten hatten und in den nächsten fünf Jahren mehr öffentliche Hilfe in Anspruch nehmen mussten”, schreibt das Autorinnen-Trio um die Ökonomin Sarah Miller. Auch in amtlichen Daten stießen sie darauf, dass die Frauen, die gegen ihren Willen Kinder zur Welt gebracht haben, finanziell anhaltend unter erheblichen Stress standen. Die Ergebnisse zeigten die “Kosten” der bestehenden Regeln, die den Zugang zu Abtreibungen erschweren, resümieren die Autorinnen. Auf den Wert des Lebens der zur Welt gekommenen Kinder, das dem gegenüberstehen könnte, gehen sie in ihren Schlussfolgerungen nicht ein.

Dass strenge Abtreibungsgesetze zu mehr Geburten, aber in der Folge auch zu mehr Todesfällen in der frühen Kindheit führen, legt eine weitere Erhebung nahe. Sie beruht auf einer Datenbank, die Angaben zu fast 12 Millionen amerikanischen Kindern und Müttern enthält. Roman Pabayo von der University of Alberta und seine Ko-Autoren stießen darauf, dass in Bundesstaaten mit strengen Gesetzen das Risiko, dass Säuglinge vor ihrem ersten Geburtstag sterben, um 10 Prozent höher ist als in liberaleren Staaten. “Im Jahr 2017 gab es in den Vereinigten Staaten 22 000 Todesfälle bei Säuglingen, von denen eine unverhältnismäßig hohe Zahl in Bundesstaaten mit restriktiven Abtreibungsgesetzen auftrat”, schreiben die Autoren. Sie schlussfolgern: “Eine Senkung der Säuglingssterblichkeit um 10 Prozent in diesen Bundesstaaten könnte Hunderte von überzähligen Todesfällen pro Jahr verhindern.” Als Gründe für die höhere Sterblichkeit, die sich auf Kinder jüngerer Mütter konzentriert, nennen die Forscher häufigere psychische Probleme der Frauen, ihre im Schnitt schlechtere finanzielle Situation und, mit beidem einhergehend, weniger Möglichkeiten, sich ausreichend um den Säugling zu kümmern.

Wenn Ökonomen recht haben, führen liberale Abtreibungsgesetze zudem zu weniger Kriminalität. Die Forscher John Donohue aus Stanford und Steven Levitt aus Chicago präsentierten schon zu Beginn des Jahrtausends Hinweise darauf, dass Kinder aus Bundesstaaten mit scharfen Abtreibungsregeln häufiger auf die schiefe Bahn geraten und in der Jugend und als junge Erwachsene häufiger kriminell werden. In einer 2020 in der Fachzeitschrift “American Law and Economics Review” veröffentlichten Arbeit untermauern sie ihre These mit neuen Zahlen. Der gemessene Effekt ist groß. Von 1991 bis 2014 seien die Gewalt- und Eigentumsdelikte in den Vereinigten Staaten jeweils um die Hälfte zurückgegangen, schreiben die Forscher. “Wir schätzen, dass die Legalisierung der Abtreibung in diesem Zeitraum die Gewaltkriminalität um 47 Prozent und die Eigentumskriminalität um 33 Prozent reduziert hat und somit den größten Teil des beobachteten Kriminalitätsrückgangs erklären kann”, fassen Donohue und Levitt zusammen. Sollten sie damit richtig liegen, würde die Aufhebung von “Roe gegen Wade” mittelfristig die Kriminalität in Amerika mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder steigen lassen.

In Deutschland sind Abtreibungen straffrei, sofern sie innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen stattfinden und die Frau sich mindestens drei Tage vor dem Termin in einer Beratungsstelle Rat geholt hat. Vergleichbare Studien dazu sind rar gesät. Allerdings zeigt eine Untersuchung aus Arkansas, wie solche gesetzlich vorgeschriebenen Beratungen und Bedenkzeiten wirken. Nachdem dort eine Beratungspflicht eingeführt und die Mindestdauer zwischen Beratung und Abtreibung auf 48 Stunden verdoppelt wurde, ging die Zahl der Abtreibungen um fast ein Fünftel zurück.

Die Beratungspflicht in Deutschland verhindert demnach viele Abtreibungen. Welche Folgen das Urteil des Supreme Courts in Amerika hat, wird sich in den Daten erst in vielen Jahren zeigen.

 

Literatur:
Sarah Miller et al.: What Happens After an Abortion Denial? A Review of Results from the Turnaway Study, American Economic Review, Paper and Proceedings, 2020.

Roman Pabayo et al.: Laws Restricting Access to Abortion Services and Infant Mortality Risk in the United States; International Journal of Environmental Research and Public Health, 2020.

John J Donohue, Steven Levitt: The Impact of Legalized Abortion on Crime over the Last Two Decades, American Law and Economics Review, 2020.

Onur Altindag, Theodore Joyce: Another Day, Another Visit: Impact of Arkansas’s Mandatory Waiting Period for Women Seeking an Abortion by Demographic Groups, NBER Working Paper, 2022.