Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Einwanderer machen uns reicher

Als Amerika einst die Zuwanderung stark einschränkte, gehörten auch die Einheimischen zu den Verlierern. Von Winand von Petersdorff

Vor hundert Jahren änderten die Vereinigten Staaten das Einwanderungsrecht in gravierender Weise. Konnten bis dahin Europäer fast ohne rechtliche Beschränkungen in die USA ziehen, beschränkten neue Gesetze von 1921 an die Zuwanderung. Die Restriktionen trafen vor allem die Bürger süd- und osteuropäischer Länder. Quoten bewirkten, dass die Anzahl der zugelassenen Einwanderer um etwa 75 Prozent sank.
 
Damals fand das Denken in der amerikanischen Politik breite Zustimmung, dass einige Nationen und Ethnien schlechter als andere in die amerikanische Gesellschaft zu integrieren seien. Eugenik, die Lehre von den vermeintlich guten und schlechten Erbanlagen, galt als wissenschaftlich. Eine zentrale, vor allem von Arbeiterführern und Publizisten verbreitete These gegen Einwanderung lautete zudem: Die Neuankömmlinge raubten Einheimischen die Arbeitsplätze, weil sie bereit seien, für einen geringeren Lohn und unter schlechteren Bedingungen zu arbeiten.
 
Die abrupte Limitierung der Zuwanderung von 1921 an erlaubt es, diese These der Immigrationsgegner zu prüfen. Sänke mit dem Rückgang der Einwanderung der Lohndruck, dann müssten die Löhne für die Einheimischen nach 1921 steigen. Amerikas führende Migrationsforscherin Leah Platt Boustan und ihre Kollegen fanden dagegen heraus, dass die Arbeitseinkommen der Einheimischen in den urbanen Bezirken sogar zurückgingen, die besonders von der Beschränkung der Zuwanderung betroffen waren.
 
Was erklärt dieses Phänomen? Vor allem inneramerikanische Migration. US-Bürger sowie Mexikaner und Kanadier, für die es keine Zuwanderungsbeschränkung gab, ersetzten zumindest in den Städten die klassischen Einwanderer fast komplett, rein quantitativ betrachtet. Allerdings füllten sie nur die Hälfte der klassischen Immigranten-Jobs, die keine besonderen Vorkenntnisse verlangten. Der Grund: Die Neuankömmlinge in den urbanen Zentren waren im Schnitt besser ausgebildet als die Einwanderer aus Europa, deren potenzielle Stellen sie besetzten. Damit standen sie in schärferer Konkurrenz zu den Einheimischen – mit der Folge, dass die Löhne unter Druck gerieten.
 
Auf dem Land stellte sich die Lage komplett anders da. Als dort Einwanderer wegblieben, verfolgten die Farmer zwei Strategien: Sie setzten auf Ackerfrüchte, die weniger arbeitsintensiv waren, und bauten zum Beispiel Weizen an statt des damals aufwendig zu erntenden Maises. Und sie setzten mehr Maschinen ein. Pferde und Esel, die als Zugtiere dienten, wurden durch erste Traktoren ersetzt. Ford, damals einer der Marktführer, verkaufte im Jahr 1921 allein 36 000 Trecker in den USA. Durch die Automatisierung verschwanden zahlreiche Arbeitsplätze. Nicht nur klassische Saisonkräfte für die Ernte wurden nicht mehr gebraucht, sondern auch die Gespannführer, die Zugtiere versorgten und einsetzten.
 
Das wiederum hielt Amerikaner ab, aufs Land zu ziehen oder dort zu bleiben. Für den ländlichen Raum verzeichnen die Forscher einen Wegzug von US-Amerikanern und Kanadiern, die offenbar ihre Chancen in den Städten suchten. Die einzige Gruppe, die aufs Land zog, ohne aber die Verluste zahlenmäßig wettzumachen, bildeten die Mexikaner. In einer Hinsicht allerdings ähnelten die Folgen der limitierten Einwanderung auf dem Land jenen in den Städten: Die Löhne sanken auch hier.
 
Mexikaner nehmen eine Sonderstellung in der amerikanischen Einwanderungsgeschichte ein. Obwohl sie um 1920 ähnlichen Anfeindungen und Vorverurteilungen ausgesetzt waren wie Süd- und Osteuropäer, fanden Forderungen, ihre Zuwanderung zu beschränken, keine politische Mehrheit. Die Landwirtschaftslobby machte erfolgreich geltend, dass sie für die Farmer unabdingbar waren.
 
Doch der Schutz sollte nicht ewig wehren. 44 Jahre später unternahm die Regierung der Vereinigten Staaten den Versuch, rund 500 000 mexikanische Arbeiter aus dem Land zu werfen. Am letzten Tag des Jahres 1964 beendete der demokratische Präsident Lyndon B. Johnson das Bracero-Programm. Das war ein Abkommen, das jedes Jahr Hunderttausenden Arbeitern aus Mexiko die zeitlich befristete Arbeit in den Vereinigten Staaten erlaubte, vor allem im ländlichen Raum. Nach dem Zweiten Weltkrieg half Jahr für Jahr knapp eine halbe Million Mexikaner den amerikanischen Farmern, ihre Ernte einzubringen. “Bracero” ist der spanische Begriff für Erntehelfer.
 
Ähnlich wie die Beschränkung der Einwanderung 1921 war die Beendigung des Bracero-Programms aus Sicht der Forschung ein Großexperiment, das die Identifikation von Wirkungsketten erlaubt. Die Folgen waren auch hier bemerkenswert ähnlich.
 
Die Politiker hatten kalkuliert, dass die Farmer nun heimische Arbeiter einstellen würden, zu besseren Löhnen. Das geschah aber nicht. Die Abwesenheit der Mexikaner löste wie schon die restriktive Einwanderungspolitik von 1920 einen ungeahnten Produktivitäts- und Technisierungsschub aus.
 
Das eklatanteste Beispiel lieferten Kaliforniens Tomatenbauern. Für kein Produkt wurden mehr Braceros eingesetzt als für die Tomatenernte. Und in keinem Bundesstaat wurden mehr Tomaten geerntet als in Kalifornien. Im Jahr 1963 lasen mexikanische Erntehelfer und wenige Einheimische die Tomaten komplett mit der Hand, fünf Jahre später setzten fast alle Betriebe in Kalifornien frisch entwickelte Erntemaschinen ein. Das wiederum hatte weitere Folgewirkungen. Mit den Maschinen konnten die Farmer größere Schläge bearbeiten, kleine Tomatenfarmen verschwanden weitgehend. Um die heimkehrenden Braceros zu beschäftigen, startete Mexiko auf Druck von Gewerkschaften in der Grenzregion ein Industrialisierungsprogramm. Es bildete die Grundlage für die vielen Hundert Fabriken, die in den mexikanischen Grenzstädten entstanden: die Maquiladoras. Sie wurden zur verlängerten Werkbank der amerikanischen Industrie. Somit legte die Beschränkung des freien Personenverkehrs den Keim für das Outsourcing, das heute kontrovers diskutiert wird.
 
Eine Lehre aus der Migrationsforschung lautet: Es kommt anders, als man denkt. Wer Ausländer hinauswirft oder nicht hineinlässt, erhöht eher nicht die Löhne der Einheimischen, und er beflügelt die Substitution von Arbeit durch Technik. Ein heutiges Beispiel dafür sei beispielsweise das Offshoring von Softwareentwicklung oder Rechtsberatung, schreiben Boustan und ihre Kollegen.
 
 
Literatur:
Ran Abramitzky, Philipp Ager, Leah Platt Boustan, Elior Cohen, Casper W. Hansen (2022): “The Effects of Immigration on the Economy: Lessons from 1920s Border Closure”.
Michael Clemens, Ethan G. Lewis, Hannah M. Postel (2018): “Immigration Restrictions as Active Labor Market Policy: Evidence from the Mexican Bracero Exclusion”.