Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Kauft der Kapitalismus Zeit?

Anmerkungen zu einem Buch von Wolfgang Streeck: "Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus". Ein Gastbeitrag von Malte Faber und Thomas Petersen

Von Malte Faber und Thomas Petersen 1)

 

Wolfgang Streecks Buch “Gekaufte Zeit” (Suhrkamp 2013) ist ein couragierter Versuch, auf 250 Seiten die Entwicklung des Kapitalismus von 1945 bis zur Gegenwart darzustellen:

„das Bild […] ist mit breitem Pinsel auf großer Leinwand gemalt. Kontext und Sequenz stehen im Mittelpunkt, Ereignisse eher am Rande, grobe Gemeinsamkeiten verdrängen feine Unterschiede; Zusammenhänge zwischen Fällen und Feldern erhalten mehr Aufmerksamkeit als diese selber; Synthese kommt vor Analyse…“ (S. 18).

Diese Darstellungsweise macht das Buch gemessen am Schwierigkeitsgrad des Themas leicht lesbar. Die letzten 30 Seiten des Buches geben einen Ausblick.

Zeitlich große Bögen spannende Untersuchungen, wie Streeck sie leistet, sind nicht häufig. Dabei beschränkt der Verfasser sich nicht auf statische Zustandsbeschreibungen, sondern betrachtet vor allem zeitliche Verläufe (S. 11). Auch die häufig vernachlässigte räumliche Dimension (S. 12) wird von ihm berücksichtigt. Weiter gefällt, für wie wichtig der Autor

  1. die Bedeutung der Geschichte für das Verständnis der Gegenwart hält,
  2. wie klar er sieht, dass die Zukunft ein offener Prozess ist, über die nur wenig vorausgesagt werden kann,
  3. wie essentiell es daher ist, unser Unwissen ernst zu nehmen.

Gerade bezüglich der letzten drei Hinweise können Ökonomen viel von ihm lernen. Insgesamt gilt, dass dieser Essay Gelegenheit gibt, über weit gespannte zeitliche Entwicklungslinien nachzudenken, was in Forschung und Medien zu wenig geschieht.

In methodischer Hinsicht stimmen wir Streecks Urteil zu, dass

  • „im historischen Kontext die Bedeutung zahlreicher in sozialwissenschaftlicher Querschnittsuntersuchungen beobachteter Unterschiede zwischen nationalstaatlichen verfassten Gesellschaften des demokratischen Kapitalismus“ relativiert werden muss.“ (S.13).
  • „wir […] dazu [neigen], zu unterschätzen, wie lange gesellschaftliche Ursachen brauchen, um gesellschaftliche Wirkungen hervorzubringen. Wenn man zu früh fragt, ob eine Theorie über Wandel oder Ende einer gesellschaftlichen Formation zutrifft oder nicht, läuft man Gefahr, sie widerlegt zu finden, bevor sie sich hätte beweisen können“. (S. 14)
  • „Institutioneller Wandel […] oft und vermutlich meistens als gradueller Wandel stattfindet […], den man sehr lange als marginal abtun kann, auch wenn das Marginale längst dadurch zum Kern der Sache geworden ist, dass er deren Entwicklungsdynamik bestimmt.“ (S.14)

Die zentrale These von Streeck lautet, der Kapitalismus habe sich

  • – mit der Inflation in den siebziger Jahren,
  • – der darauf folgenden Verschuldung der Staaten sowie der privaten Haushalte und
  • – mit der Liberalisierung der Märkte

„Zeit gekauft“, um seinen Zerfall aufzuhalten. In den letzten beiden Sätzen des Hauptteiles des Buch warnt der Verfasser: „Aber eine gesteigerte Reizbarkeit und Unberechenbarkeit der Staatsvölker – ein sich ausbreitendes Gefühl für die tiefe Absurdität der Markt- und Geldkultur und die groteske Überzogenheit ihrer Ansprüche gegen die Lebenswelt – wäre immerhin eine soziale Tatsache: Sie könnte als `Psychologie´ der Bürger neben die Märkte treten und wie diese Berücksichtigung verlangen. Schließlich können Bürger ebenso in `Panik´ verfallen und `irrational´ reagieren wie Finanzinvestoren, vorausgesetzt, dass sie sich nicht auf mehr `Vernunft´ verpflichten lassen als diese, auch wenn ihnen als Argumente nicht Geldscheine zur Verfügung stehen, sondern nur Worte und, vielleicht, Pflastersteine.“ (223)

Streeck beschreibt die Geschichte der kapitalistischen Wirtschaft und der Demokratien mit kapitalistischer Marktwirtschaft vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zur Gegenwart, wobei er sich auf die entwickelten Staaten beschränkt. Diese Politik sei gekennzeichnet von einem Interessengegensatz von Kapitalbesitzern und denjenigen Menschen, die kein Kapital besitzen und die nicht direkt von den Erträgen des Kapitals profitieren.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte sich ein Kompromiss zwischen diesen beiden Gruppen gebildet, bei dem die Kapitalbesitzer bereit waren, für den Erhalt ihres Besitzes umfangreiche sozialstaatliche Maßnahmen, Gewerkschaftsmacht – gemäß heutigen Maßstäben – für Vollbeschäftigung und starke Regulierung des Arbeitsmarktes zu gewähren.

Ab 1970 haben die Kapitalgeber zunehmend Abstand von diesem Kompromiss genommen und ihre Investitionsbereitschaft von einer immer größeren Bereitschaft der Gegenseite und der Politik zu Zugeständnissen abhängig gemacht. Dazu ist unserer Meinung nach allerdings zu berücksichtigen,

  • dass die lange Wiederaufbauphase nach dem Krieg um 1970 herum abgeschlossen war,
  • die Ölkrisen 1973 und 1979/80 schwere Rezessionen bewirkten,
  • die Begrenzung der Ressourcen und der Umwelt in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangte und Auswirkungen auf die Wirtschaft hatte sowie
  • die internationale Verflechtung wieder den Stand von etwa 1914 erreicht hatte.

Man hätte erwarten können, dass zwischen diesen Tendenzen und Ereignissen und den veränderten Verhalten der Kapitalbesitzer von dem Autor ein Zusammenhang hergestellt würde, das geschieht allerdings allenfalls kursorisch.

Ab 1970 skizziert Streeck die Entwicklung wie folgt. Die Kapitalbesitzer erreichen, möglicherweise durch den Einsatz ihrer Marktmacht, eine niedrigere Besteuerung ihrer Renditen. Darauf reagieren die Staaten mit einer Ausweitung der Inflation, um die Löhne und Gehälter weiter wie früher steigen lassen zu können. Darüber hinaus wurden durch die Inflation die sich langsam aufbauenden Staatsschulden leichter tragbar gemacht und die Steuern vor allem der Lohn- und Gehaltsempfänger durch die kalte Progression erhöht.

Als Anfang der achtziger Jahre die Inflation zurückgegangen war und dieses Mittel nicht mehr zur Verfügung stand, wich die Politik auf Schuldenfinanzierung aus: Den Grund sieht Streeck (S. 107) darin, „…dass die Fähigkeit des Steuerstaates, seinen Bürgern – oder genauer: einer besitzbürgerlichen Zivilgesellschaft – die Mittel abzuringen, die er zur Erbringung der von ihm geforderten Leistungen benötigen würde, über kurz oder lang nicht mehr ausreichen würde.“ Dadurch kam es zu einer „Transformation des Steuerstaates in einen Schuldenstaat“ (S. 109). Ab 2008 begann mit der Krise im Finanzsystem das Vertrauen der Kapitalmärkte in die Fähigkeiten der Staaten, ihre Schulden zu bedienen, zu schwinden. Aufgrund dessen kam es zur Ausbildung des Konsolidierungsstaates, das heißt, wenn nicht zu einer Verringerung, so doch zu einem absoluten Stillstand der Höhe der Staatsschulden.

Streecks zentrale These ist, diese Krise sei durch die Macht der Kapitalbesitzer vorangetrieben. Begünstigt wurde das durch das Versagen der demokratischen Politik: „Versagt haben Demokratie und die demokratische Politik, als sie versäumt haben, die Konterrevolution gegen den Sozialkapitalismus der Nachkriegsära als solche zu erkennen und sich ihr zu widersetzen; als sie in der Scheinblüte der 1990er Jahre darauf verzichtet haben, den ins Kraut schießenden Finanzsektor zu regulieren; als sie dem Gerede von einer ins Haus stehenden demokratiefreundlichen und sozialverträglichen Ablösung von `hartem´ Gouvernement durch `weiche´ governance bereitwillig Glauben geschenkt haben [ ]; als sie darauf verzichtet haben, die Nutznießer des Wachstums der kapitalistischen Ökonomie so zu besteuern, dass sie die sozialen Kosten ihrer Gewinne hätten mittragen müssen; und als sie die wachsende Ungleichheit zwischen oben und unten nicht nur hinnahmen, sondern sie im Namen des kapitalistischen Fortschritts durch ànreizkompatible´ Steuer- und Sozialstaatsreformen auch noch förderten.“ (S. 111-112)

Bei dieser Entwicklung spielt auch der Einfluss von Politischen Ökonomen eine Rolle, insbesondere der Friedrich von Hayeks. Hayek plädiert für eine von politischen Einflüssen möglichst freie Marktwirtschaft. Die Hayeksche Theorie sei gleichsam das Drehbuch für die dargestellte Entwicklung. Nach Streeck führt diese Entwicklung zu einer Entdemokratisierung: Dem Staatsvolk, das die Parlamente wählt, die das Budgetrecht haben, steht im Konsolidierungsstaat das „Marktvolk“ (S. 118 ff) gegenüber, das ist die Gruppe der Gläubiger, durch die sich der Staat finanzieren muss. Streecks These ist, dass das Budget des Staates nicht mehr vom Staatsvolk beziehungsweise seiner Repräsentation dem Parlament, sondern vom Marktvolk, vertreten durch Banken und institutionelle Anleger, bestimmt wird. Dabei behauptet Streeck nicht, dass diese Entwicklung immer von bestimmten Akteuren gezielt vorangetrieben worden sei.

Insbesondere räumt er ein, dass die Herausbildung des europäischen Konsolidierungsstaates auf den ersten Blick chaotisch und zufällig wirkt, doch in Wahrheit einer Ordnung gehorcht. (S. 212). Die Deutung dieses Prozesses als eines einheitlichen Geschehens ist eine Leistung der reflektierenden Urteilskraft (im Kantischen Sinne des Wortes).

Streeck deutet eher an, als er ausführt, dass die moderne Ökonomik insofern, als sie sich an den Gesetzmäßigkeiten des Marktes orientiert, eine Sicht der Wirklichkeit darstellt, die mit den Interessen der Kapitalbesitzer korreliert. Dies würde bedeuten, dass die moderne Ökonomik ideologisch im Marxschen Sinne des Begriffes ist. In diesem Sinn stellt die Ideologie einen partikularen Gesichtspunkt, ein partikulares Interesse als wissenschaftliche Objektivität oder als allgemeines Interesse dar. Dies ist kein bewusster Betrug – das heißt, die Ökonomen sind nicht Handlanger der Kapitalbesitzerinteressen – sondern eine Täuschung, der die Wissenschaftler und die ihnen vertrauenden Politiker selbst unterliegen.

Soweit die These von Streeck.

Die Kapitel des Buches sind unterschiedlich stringent, so wirkt zum Beispiel das Kapitel III über die Europäische Union teilweise etwas konfus, denn manche der dargestellten Entwicklungen im Einzelnen passen nicht zur generellen These. Die Hauptthese der Entwicklung vom Steuerstaat zum Konsolidierungstaat ist stimmig, auch wenn damit nicht gesagt ist, dass sie richtig ist.

Was ist Streecks Ausgangsbasis? Es ist, wie er selbst sagt, sein Studium während der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bei Vertretern der „Frankfurter Schule“ und deren „Kritische Theorie der Gesellschaft“ (siehe insbesondere S. 11, 18 – 20). Streeck argumentiert nicht in deren Begrifflichkeit2), aber doch in deren Perspektiven und belegt seine Argumentation mit Statistiken, die er allerdings nicht selber erhoben hat, sondern die öffentlich verfügbar sind.

Streeck zeichnet ein überwiegend skeptisches Bild der Entwicklung der Zeit seit dem Jahr 1960. Wirtschaft, Gesellschaft und Politik haben sich aus seiner Sicht negativ entwickelt: „..die Demokratie, wie wir sie kennen, [ist] auf dem Weg, […] als redistributive Massendemokratie sterilisiert und um seinetwillen auf eine Kombination von Rechtsstaat und öffentlicher Unterhaltung reduziert zu werden.“ (S. 28)

Streeck orientiert sich an den „Krisentheorie[n] der `Frankfurter Schule´“ (S. 11). Seine ökonomischen Kenntnisse sind durch die Literatur bis zum Ende der sechziger Jahre geprägt. Auch wenn er sich selbst nicht explizit als Marxisten bezeichnet, sind ihm Marx und der Marxismus wichtig: „Ohnehin ist die modernen Sozialwissenschaft, vor allem wo sie sich mit ganzen Gesellschaften und ihrer Entwicklung befasst, nie ohne Rekurs auf zentrale Elemente `marxistischer´ Theorien ausgekommen – und sei es, dass sie sich im Widerspruch zu diesen definiert. Ich bin jedenfalls überzeugt, dass man die aktuelle Entwicklung der modernen Gegenwartsgesellschaften ohne den Gebrauch bestimmter auf Marx zurückgehender Schlüsselbegriffe nicht nur annähernd verstehen kann – und dass dies immer mehr der Fall sein wird, je deutlicher die treibende Rolle der sich weiter entfaltenden kapitalistischen Marktwirtschaft in der entstehenden Weltgesellschaft werden wird.“ (S.17-18)3

Die neuen Entwicklungen in der marxistischen Ökonomik seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hat Streeck aber offensichtlich nicht verfolgt. So vertritt er zum Beispiel Positionen bezüglich des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate, die viele Marxisten schon vor Jahrzehnten aufgegeben haben (siehe z.B. Fußnote 9 auf S. 15).

Streeck ist „Soziologe und Politikwissenschaftler“ (S. 11) mit wirtschaftswissenschaftlichen Kenntnissen. Ökonomen, an denen er sich orientiert, sind Wagner (1896), Goldscheid (1917), Keynes (1936), Schumpeter (1912, 1918), Max Weber, Kalecki (1943) und vor allem Hayek (1939). Von diesen sind vor allem Keynes und Hayek für Streeck von Interesse, weil sich diese als Politische Ökonomen verstanden haben. Keynes und Hayek haben nämlich eine Konzeption des Verhältnisses von Politik und Wirtschaft.

Streeck favorisiert die keynesianische Wirtschaftspolitik, ohne darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei um eine kurzfristige Politik handelt. Bei seiner negativen Einschätzung der herkömmlichen Wirtschaftswissenschaften wird offensichtlich, wie wenig er die Entwicklungen dieser Disziplin seit den siebziger Jahren verfolgt hat. Es ist auffällig, dass er das Fundament der herkömmlichen Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik, den 2. Hauptsatz der Wohlfahrtstheorie, nicht berücksichtigt.

Streecks generelle These ist, wie gesagt, dass seit 1970 die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums immer mehr zugunsten der Kapitalbesitzer sich verschoben hat. Die Lohneinkommen stagnieren und vor allem werden direkte und indirekte staatliche Transfers reduziert. Es gibt jedoch Entwicklungen, die sich nicht ohne weiteres mit diesem Bild in Einklang bringen lassen, die Streeck jedoch übergeht. Zu nennen wären:

  • die massive Erweiterung der Bildung,
  • die Verbesserung der materiellen Lage,
  • insbesondere des Wohnraumes, der Ernährung, Mobilität, Kommunikation,
  • des Arbeitsschutzes,
  • der Gesundheit der Bevölkerung,
  • der Lage der Behinderten

sowie

  • die – noch 1980 nicht vorstellbaren – Verbesserungen des Zustandes der Umwelt.

Oben erwähnten wir, dass Streeck seine Darstellung nicht auf allgemeinen und verbal gehaltenen Beobachtungen beschränkt, sondern sie mit vielen Statistiken und Fakten belegt hat. Auch wenn wir aus wirtschaftswissenschaftlicher und statistischer Sicht manche Daten und Argumentationsweisen als unzureichend ansehen – wie zum Beispiel die unkritische Weise, wie Veränderungen von Wachstumsraten oder von Zahlen (etwa die des Gini-Koeffizienten auf S. 59 und 84f) interpretiert und beurteilt werden – so sind doch viele seiner quantitativen Angaben und deren Einordnung von Interesse. Auch eine Reihe seiner Anekdoten, wie zum Beispiel in Fußnote 33 auf S. 122, liefern treffende Einsichten.

Streeck formuliert in seiner Darstellung eine Reihe von Thesen, deren empirische Überprüfung wir für wünschenswert halten. Vier wollen wir nennen:

1. Aufgrund der Liberalisierung der Märkte kann das Kapital auf der Suche nach höheren Erträgen leicht von einem Land in ein anderes verschoben werden; denn dadurch käme es zu einer Einschränkung der Souveränität der Nationalstaaten und damit der demokratischen Entscheidungsgewalt ihrer Staatsvölker (S. 126).

2. Die Finanzmärkte entwickelten sich zur fünften Gewalt (S. 125)

3. Liberaler Kapitalismus und Demokratie seien nicht vereinbar (S. 94).

4. Unter den gegenwärtigen ökonomischen Macht- und Verteilungsverhältnissen reichten die Staatseinnahmen strukturell nicht aus, um die notwendigen Staatsausgaben zu finanzieren.

Bei allen vier Thesen haben wir Zweifel, würden es aber begrüßen, wenn diese Thesen empirisch und theoretisch untersucht werden würden.

In seinem Ausblick (S.225-256) entwickelt Streeck Vorschläge für „einen sozial befriedeten Kapitalismus“. Diesen Vorschlägen werden überraschenderweise „Standard-Ökonomen“ viel eher zustimmen, als der im Hauptteil gegebenen historischen Analyse; so halten viele Volkswirte, wahrscheinlich die meisten, die Abwertung einer nationalen Währung für das geeignetste Mittel um Krisen wie in Griechenland zu überwinden. Wir stimmen allerdings der von Streeck präferierten Wachstumspolitik, die ebenfalls die meisten „Standard-Ökonomen“ befürworten, aufgrund unserer Skepsis gegenüber der unzureichenden Berücksichtigung von Umwelt- und Rohstoffproblemen nicht zu. Ganz im Gegenteil ist unsere These, dass dadurch der Kapitalismus „Zeit kaufe“, die unwiederbringlich verloren ist und eine viel größere Ungerechtigkeit gegenüber zukünftigen Generationen ist, als die von dem Verfasser im Verlauf seines Essays immer wieder herausgearbeitete.4

Streecks Buch hat bezüglich der Entwicklung des Kapitalismus zwei generelle Thesen, die man voneinander unterscheiden muss.

Die erste besagt, nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine Phase, in der Kapitalismus und Demokratie einigermaßen harmonisch zusammengingen. Diese Symbiose löse sich seit 1970 auf: Demokratieprinzip und damit zusammenhängend die staatliche Souveränität werden durch die Dominanz der Märkte immer weiter geschwächt. Diese These ist gut durchgeführt und diskutabel.

Die andere These, die dem Buch auch seinen Titel gibt, lautet, der Kapitalismus habe sich seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit unterschiedlichen Mitteln „Zeit gekauft“ und stoße mit dieser Strategie an eine definitive Grenze. Diese These ist im Gegensatz zur ersten schwach begründet. Sie scheint eher eine Variante der Erwartung des baldigen Zusammenbruchs der kapitalistischen Wirtschaft zu sein, die auch schon Karl Marx hegte. Auch bei Marx stand das schon im Widerspruch zu seinen eigenen Analysen.

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1 Malte Faber war von 1973 bis 2004 Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftstheorie am Alfred-Weber-Institut der Universität Heidelberg.

Thomas Petersen ist Privatdozent für Philosophie an der Universität Heidelberg sowie Professor für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.

2 In methodischer Hinsicht sagt er von sich, dass er “theoretisch mit leichtem Gepäck reise” (S. 17); das erleichtert die Lektüre seines Buchs.

3 Siehe zu einer anderen Einschätzung T. Petersen und M. Faber, Karl Marx und die Philosophie der Wirtschaft. Bestandsaufnahme – Überprüfung – Neubewertung, 2. Auflage, Alber Freiburg, 2014.

4. Becker, D. Ewringmannn, M. Faber, Petersen und A. Zahrnt) „Endangering the natural basis of life is unjust. On the status and future of the sustainability discourse”, Discusionspaper No. 527, Department of Economics, Universität Heidelberg, 2012, erscheint in der amerikanischen Zeitschrift Ethics, Politics & Environment. – Eine Kurzfassung dieses achtseitigen Papers erschien am 26. Januar 2012 in der ZEIT unter dem Titel „Schluss mit der Harmonie zwischen Ökonomie und Ökologie.“