Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Gefahren für das Finanzsystem: Die zwei Wellen der globalen Liquidität

In den ersten Jahren des neuen Jahrtausends bauten vor allem europäische Großbanken ihr Geschäft aus, indem sie sich in den Vereinigten Staaten kurzfristig verschuldeten und die Gelder rund um den Globus verliehen. Diese erste Welle der globalen Liquidität trug wesentlich zum Ausbruch der Finanzkrise bei. Die Banken sind ein Stück weit gezähmt, aber nun treten andere Großanleger an ihre Stelle. Die zweite Welle der globalen Liquidität ist in Gang gekommen - und auch sie ist gefährlich.

Bald haben die großen internationalen Kapitalanleger die ganze Erde abgegrast. Auf der Suche nach attraktiven Anlagen sind sie in der jüngeren Vergangenheit in den sogenannten “Frontier-Märkten” gelandet – Ländern wie Nigeria, Argentinien, Vietnam oder Scheichtümer in Arabien. Dort hoffen sie auf Renditen, die in den Industrienationen und vielen etablierten Schwellenländern wie Brasilien zumindest derzeit nicht erreichbar erscheinen. Die Geschäfte von Anlegern in weiter Ferne verdienten normalerweise kein allgemeines Interesse. Aber sie sind Ausdruck von Trends an den internationalen Kapitalmärkten, die Gefahren für die Stabilität des Finanzsystems und damit für die gesamte Wirtschaft mit sich bringen. Denn nach einer ersten Welle in der vergangenen Dekade ergießt sich nun eine zweite Welle der Liquidität über die internationalen Finanzmärkte. Die Ursachen dieser Wellen sind vielschichtig. Um sie zu erspüren, ist es notwendig, einige Jahre in die Vergangenheit zurückzukehren.

Am Anfang stehen drei Ereignisse, die scheinbar wenig miteinander zu tun haben. Erstens sind seit den achtziger Jahren in Nordamerika und Europa die Zinsen in der Tendenz gesunken. In den ersten Jahren des vergangenen Jahrzehnts senkte die amerikanische Notenbank Fed unter dem Eindruck einer Rezession und einer Furcht vor einer Deflation ihre Leitzinsen auf neue historische Tiefststände. Zweitens erlaubten großzügige Regulierungen sowie neue Bewertungsmodelle für Aktiva den Banken in den Industrienationen eine erhebliche Ausweitung ihrer Geschäfte. *) Drittens schuf die Gründung der Europäischen Währungsunion für die im Euroraum ansässigen Banken Möglichkeiten, ihre Geschäfte auszuweiten, ohne Wechselkursrisiken einzugehen. Ihr Heimatmarkt wuchs mit einem Schlag.

Die aus dieser Gemengelage entstandenen Folgen wirken bis heute nach und sind das Studienobjekt zahlreicher Ökonomen. Eine herausragende Rolle spielt der Koreaner Hyun Song Shin, auf dessen Arbeiten sich dieser Beitrag wesentlich stützt. Shin ist seit Anfang Mai als Chefökonom der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel tätig. Zuvor war er Professor an der Princeton University in den Vereinigten Staaten.

In den Jahren 2000 bis 2008 wuchsen die Bilanzsummen international tätiger, und hier vor allem aus Europa stammender, Banken sehr stark. Dies gilt für Banken aus dem Euroraum, aber auch für Banken aus Großbritannien und in geringerem Maße für Banken aus der Schweiz und aus Skandinavien. Alle drei Ursachen trugen hierzu bei. Die niedrigen Zinsen in den Vereinigten Staaten verlockten zur billigen Geldaufnahme. Europäische Banken begaben kurzfristige Wertpapiere, die sie amerikanischen Geldmarktfonds verkauften. Die aufgenommenen Dollarbeträge reichten sie in alle Weltgegenden unter Inkaufnahme wachsender Risiken weiter. Damit begann die erste Welle globaler Liquidität.

Einiges Geld verblieb in den Vereinigten Staaten, indem die europäischen Banken – zum Teil in Gestalt ihnen gehörender Zweckgesellschaften – kurzfristig Dollar bei Geldmarktfonds aufnahmen und das Geld längerfristig in Dollar investierten, darunter nicht zuletzt in Form verbriefter Immobilienkredite, deren fragwürdige Bonität ab dem Jahr 2007 deutlich wurde. So trugen international tätige Banken zum amerikanischen Immobilienboom und der nachfolgenden Krise bei. Derartige Geschäfte wurden unter anderem für die IKB und die Landesbank Sachsen zum Verhängnis.

Weiterhin nutzten europäische Großbanken die günstigen Finanzierungsbedingungen, indem sie ihre Geschäfte im Euroraum ausweiteten. Es waren nicht zuletzt Banken aus nördlich der Alpen und der Pyrenäen liegenden Ländern, die Südeuropa und Irland die Finanzierung von Haushalts- und Leistungsbilanzdefiziten sowie Immobilienbooms erlaubten. Shin hat schon kurz nach ihrem Ausbruch die europäische Krise in erster Linie als Bankenkrise und erst danach als Staatsschuldenkrise bezeichnet. Ohne die erhebliche Ausweitung der Geschäfte internationaler Banken hätte es die Euro-Krise in ihrer konkreten Form wie in ihrem Ausmaß nicht gegeben.

Drittens finanzierten international tätige Banken nicht nur aus Europa, sondern auch aus Amerika mit billig erworbenen Dollar auch die Schwellenländer. Shin spricht vom “Doppeldecker-Modell”: Die internationalen Großbanken verliehen die Gelder in den Schwellenländern oft nicht selbst an Unternehmen oder Staaten, sondern reichten sie an lokale Banken weiter. Ähnliches geschah im Euroraum: Die nordeuropäischen Banken finanzierten meist nicht selbst Immobilien in Spanien. Sie finanzierten stattdessen spanische Banken, die ihrerseits die Immobilien finanzierten.

Die mit dieser Geschäftsausweitung verbundenen Risiken wurden nach Ausbruch der Krise zuerst in den Vereinigten Staaten und dann in Europa sichtbar. Erkennbar waren sie in der Größe der Bilanzen ebenso wie in der Zusammensetzung der Aktiv- und Passivseiten der Bankbilanzen. Viele Großbanken, zum Beispiel die britische Barclays Bank oder die französische Société Générale, demonstrieren in ihren Bilanzen eine erhebliche Ausweitung des Geschäfts, obgleich das Eigenkapital nur langsam wuchs. Aber nicht nur aus der geringen Eigenkapitalquote, auch aus der Zusammensetzung der Verbindlichkeiten entstanden Gefahren. Denn der raschen Ausweitung der Kredite stand kein vergleichbar rasches Wachstum der Kundeneinlagen auf Bankkonten gegenüber, die Banken gewöhnlich zu einem erheblichen Teil dauerhaft zur Verfügung stehen und damit als sicher gelten.

Stattdessen finanzierten die Banken einen zunehmenden Teil ihres Geschäfts durch die Ausgabe kurzfristiger Wertpapiere, die nach Fälligkeit durch neue Wertpapiere ersetzt wurden. Diese Art der Finanzierung stellte sich in der Krise als unsicher heraus, als die amerikanischen Geldmarktfonds sich weigerten, solche Papiere europäischer Banken weiter anzukaufen. Um diese Banken vor dem Zusammenbruch zu bewahren, bedurfte es rettender Eingriffe. Unter anderem sprangen die Notenbanken ein. So stellte die Fed der Europäischen Zentralbank und anderen Notenbanken Dollar zur Verfügung, die von den anderen Notenbanken an Geschäftsbanken aus ihren Währungsräumen weitergegeben wurden, falls diese sich am Markt nicht mehr in Dollar verschulden konnten.

Aber nicht nur die Passivseite der Banken erwies sich als krisenanfällig, sondern auch die Aktivseite, auf der sich die Anlagen befinden. Viele in Amerika erworbene Kreditverbriefungen stellten sich als wenig werthaltig heraus: Auf diese Weise wurden von europäischen Banken viele Milliarden Dollar in den Sand gesetzt. In Europa entstanden Gefahren, weil die südeuropäischen Banken die von ihren Geldgebern aus dem Norden erhaltenen Mittel oft fragwürdig angelegt hatten – ähnlich wie Banken in Schwellenländern. Denn in Südeuropa wie in Schwellenländern lassen sich die Volkswirtschaften grob vereinfacht in zwei Teile untergliedern. Einerseits gibt es eine oft wenig effiziente, große Binnenwirtschaft, die neben der Verwaltung, Staatsunternehmen und der Bauwirtschaft auch viele Dienstleistungen umfasst.

Daneben existiert eine oft sehr viel kleinere Exportwirtschaft, die, weil im internationalen Wettbewerb stehend, effizienter wirtschaftet. In Südeuropa wie in Schwellenländern ist ein erheblicher Teil der Kredite aber nicht in den effizienten Teil der Wirtschaft geflossen, sondern in den ineffizienten. Nach Ausbruch der Krise wurde dadurch die Bonität vieler heimischer Banken unterminiert, worauf die internationalen Banken die Finanzierung der lokalen Banken in den Krisenregionen abbrachen. Um einen Zusammenbruch der lokalen Banken zu verhindern, ersetzte im Euroraum die EZB über Kredite an die lokalen Banken und durch den Aufbau von Salden im Zahlungsverkehrssystem Target die bisherige Finanzierung durch die internationalen Großbanken.

In einem Schwellenland wie Korea wiederum sah die seinerzeit von Shin beratene Regierung angesichts immer weiter steigender Kapitalzuflüsse aus dem Ausland Risiken für das heimische Bankensystem, dessen Verbindlichkeiten gegenüber dem Ausland stark zunahmen. Die Regierung in Seoul beschloss daraufhin Maßnahmen, die in Korea tätige Banken von einer Ausweitung ihrer internationalen Geschäfte abhalten sollte. So wurde eine Bindung des Volumens von Termingeschäften am Devisenmarkt an das Eigenkapital einer Bank beschlossen.

In den vergangenen Jahren haben viele Banken als Folge schwacher Rentabilität und strengerer Regulierungen ihre internationalen Geschäfte reduziert. Auch wenn das Banksystem nicht als völlig gesundet gilt, sorgt die von großen Banken bewirkte erste Welle der globalen Liquidität nicht länger für große Beunruhigung. Aber deshalb ist das internationale Finanzsystem nicht zwingend stabil geworden. Denn mittlerweile ist, worauf Shin in einem Vortrag im Herbst 2013 hingewiesen hat, längst eine zweite Welle der globalen Liquidität in Gang gekommen. Nur sind dieses Mal nicht die Banken die Auslöser, sondern große Kapitalanleger wie Versicherungen und Fondsgesellschaften, die auf der Suche nach attraktiven Renditen Geld über den Globus verteilen. Davon haben viele Jahre lang Schwellenländer profitiert, die aber seit rund einem Jahr von vielen Anlegern kritischer gesehen werden. Mittlerweile sind viele dieser Anleger in den sogenannten “Frontier-Märkten” auf der Suche nach Rendite.

Die großen westlichen Kapitalanleger haben in den Schwellenländern vor allem Anleihen und weniger Aktien gekauft, und sie interessierten sich vor allem für Anleihen in westlicher Währung. Darauf haben viele Unternehmen in den Schwellenländern reagiert, indem sie durch in Großbritannien oder Amerika angesiedelte Tochtergesellschaften Anleihen begeben. Diese Anleihen erscheinen nicht in Statistiken der Auslandsverschuldung der Schwellenländer, was deren Aussagekraft reduziert. Dies lässt sich konkret für mehrere Länder zeigen, darunter für Brasilien. Die von Schuldnern brasilianischer Nationalität aufgelegten Anleihen sind viel bedeutender als die in Brasilien aufgelegten Anleihen. Ein wichtiger Teil der billig in Dollar oder Euro aufgenommenen Mittel wird von den Unternehmen nicht für produktive Investitionen verwendet, sondern in ihren Heimatländern in lokaler Währung höherverzinslich bei Banken angelegt.

Worin besteht das systemische Risiko dieser zweiten Welle der Liquidität? Auf den ersten Blick ist nicht ersichtlich, warum die Verluste eines Investmentfonds in Schwellenländern jenseits des Fondsmanagements und der in dem Fonds investierten Anleger breiteres Interesse finden sollten. Bei Banken mag ein Systemrisiko existieren, weil der Untergang einer wichtigen Bank andere Banken in Schwierigkeiten bringen kann. Aber Fehlspekulationen eines Fonds sollten nicht die gesamte Fondsbranche gefährden. Shin beschreibt jedoch einen aus sechs Phasen bestehenden Teufelskreis, der sich nach Ausbruch einer Wirtschaftskrise in einem Schwellenland einstellen kann und der letztlich doch wieder zu den Banken führt.

In einem ersten Schritt verkaufen die Großanleger Anleihen von Schwellenländern. Dies ließ sich im Mai 2013 als Ergebnis der Ankündigung einer leichten Straffung der amerikanischen Geldpolitik beobachten. Vor wenigen Monaten lösten Zweifel an der Bonität von Schwellenländern mit Leistungsbilanzdefiziten weitere Verkäufe aus. Als Folge solcher Verkäufe wird die Renditekurve in den Schwellenländern steiler, denn die langfristige Finanzierung von Staaten und Unternehmen verteuert sich.

Nun treten die Folgen einer sich oft einstellenden Abwertung der Schwellenländerwährungen hinzu. Sie setzt die dortigen Unternehmen unter Druck, die Erlöse in ihrer nationalen Währung erhalten, in den vergangenen Jahren aber viele Anleihen in harten westlichen Währungen aufgelegt haben. Die vorher reizvolle, weil niedrig verzinsliche Finanzierung in westlicher Währung wird zur Achillesferse, weil die westliche Währung für die Unternehmen aus Schwellenländern teurer geworden ist.

Diese Unternehmen müssen nicht nur ihre Investitionen beschneiden, was zu einem rückläufigen Wirtschaftswachstum in den Schwellenländern führt. Schlimmer noch: Finanziell in Nöte geratene Unternehmen können sich in der Folge veranlasst sehen, ihre Guthaben bei den Banken in den Schwellenländern zu reduzieren, was wiederum die Banken unter Druck setzt. Jetzt droht eine noch schwerere Krise, die den Teufelskreis ein weiteres Mal in Gang setzt, denn die Großanleger aus dem Westen werden auf die schlechten Nachrichten mit weiteren Verkäufen von Schwellenländeranleihen reagieren.

Aus den jüngsten Erfahrungen lassen sich mehrere Schlüsse ziehen:

Erstens verlockt eine durch sehr niedrige Zinsen gekennzeichnete Geldpolitik Finanzunternehmen zu einer Zunahme riskanter Geschäfte, die im schlimmsten Fall existentielle Gefahren für die Finanzstabilität erzeugen. Ökonomen sprechen vom “Risikokanal” der Geldpolitik. **)

Zweitens übertragen international tätige Finanzunternehmen Wirkungen der amerikanischen Politik auf andere Länder. Dies kann, wie Shin und andere Ökonomen gezeigt haben, dazu führen, dass flexible Wechselkurse, die nach alten Theorien solche internationalen Effekte neutralisieren sollen, nicht mehr wie gewünscht funktionieren. Daher wird inzwischen häufiger über Eingriffe in den Kapitalverkehr diskutiert.

Drittens ist es dringend notwendig, die Entwicklung der Passivseiten der Bankbilanzen zu untersuchen, weil sie frühzeitig Hinweise auf wachsende Risiken im Finanzsystem geben. Dies führt zu einer Renaissance monetärer Aggregate in der ökonomischen Analyse – allerdings weniger, um wie früher Indikationen für das Güterpreisniveau zu erhalten, sondern um Gefahren für die Finanzstabilität zu diagnostizieren.

Viertens zeigt sich schließlich, dass Versicherungen und Fonds ebenso wie Banken potentielle Auslöser von Finanzkrisen sein können. Dies wirft unter anderem die Frage auf, ob die sehr verschiedenen Regulierungen für Finanzmarktteilnehmer gut begründet sind – ebenso wie Fragen nach der Rolle der Geldpolitik.

 

————————————————-

Eine frühere Version dieses Beitrags ist am 6. Mai 2014 im Finanzteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen.

*) Hier ist nicht zuletzt die Risikobewertung nach VAR (“value at risk”) gemeint.

**) Eine häufig zitierte frühe Arbeit zu dem Thema stammt von Borio/Zhu.