Von Rainer Hank
„Europe isn’t working in Europe”
Im Jahr 1888 gab es eine Debatte unter Ökonomen, was denn wohl das optimale Maß für Staatsausgaben sei. Der Franzose Paul Leroy-Beaulieu meinte, fünf bis sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts dürfe man eine „moderate” Staatstätigkeit nennen, bei acht bis zehn Prozent würde er von „normal” reden, alles über zwölf Prozent aber müsse als „exorbitant” bezeichnet werden. Tatsächlich spiegelt diese Einschätzung die reale Situation der damaligen Zeit: In Frankreich und Italien pendelten die Staatsausgaben um 13 Prozent des BIP, in Amerika lagen sie noch darunter. Der Staat beschränkte sich auf seine zentralen Aufgaben: Verteidigung, Schutz der Individuen und ihres Eigentums, Verwaltung, Justiz. Auffallend ist auch, dass zwischen 1870 und 1913, in den „Goldenen Jahren des liberalen Zeitalters”, sich an diesem Verhältnis wenig geändert hat. (Wie die Staaten sich in den letzten 150 Jahren aufblähten, lässt sich nachlesen in dem schönen neuen Buch von Vito Tanzi: Government versus Markets.)
Noch im Jahr 1950 betrug auch in Deutschland der Anteil der Staatsausgaben am BIP bescheidene 19 Prozent. Heute sind die Budgets aller industrialisierter Staaten, die sich aus Steuern und Schulden speisen, so hoch wie nie zuvor (siehe Chart Staatsausgaben). Vor allem in den sechziger und siebziger Jahren, den „Goldenen Jahren des Wohlfahrtsstaats” (damals regierte übrigens in Deutschland ein Kanzler namens Helmut Schmidt), weiteten alle Regierungen die öffentliche Tätigkeit gravierend aus. Bis zu fünfzig Prozent und mehr des BIP machten in einigen Ländern die Staatsausgaben aus. Umverteilung von oben nach unten, aber mehr noch Umverteilung innerhalb der Mittelschicht (von den etwas Reicheren zu den etwas Ärmeren) haben die Staaten aufgebläht (siehe Chart Sozialtransfers).
Gleichwohl sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten auch heute noch enorm. Während die Staatsquote in den Vereinigten Staaten nie viel über dreißig Prozent lag (das änderte sich erst in der Finanzkrise des 21. Jahrhunderts), waren Italien und Frankreich schon einmal bei 55, respektive 52 Prozent. Die Schweiz kommt mit gut 30 Prozent aus, Australien auch; Hongkong genügen 18 Prozent, Deutschland liegt bei 46 Prozent. Und während es in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu einem leichten Rückgang der Staatstätigkeit kam, hat sich das zur Mitte des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrhundert – bedingt, motiviert und legitimiert durch die Finanzkrise – wieder deutlich geändert. „In der OECD herrscht allgemeiner Konsens darüber, dass die öffentlichen Finanzen in vielen OECD-Ländern auf einem unhaltbaren Weg sind”, heißt es lakonisch zusammenfassend im neuesten Überblick über die Staatsfinanzen der OECD
Schulden sind ein kommoder und unauffälliger Weg, wie die Staaten sich über darüber hinweg täuschen können, dass sie mehr Geld ausgeben, als sie einnehmen. Denn Staatsschulden sind eine besonders galante Spielart der „fiskalischen Illusion” (Robert Musgrave). So lange man Leute (die „Märkte”) findet, die die Anleihen kaufen, und solange die Zinsen dafür sich im Rahmen halten, lässt es sich auf Pump gut, ungeniert und munter leben: Niemand merkt den Preis des üppigen Staates, denn er spiegelt sich nur unzureichend in den Steuern. Dass Schulden die Steuern von morgen sind, bleibt abstrakt. Eine Party ohne Rechnung. Denn morgen sind wir alle tot. Schulden sind die Wohlstandsillusion des Wohlfahrtsstaates, die Politiker und Bürger symbiotisch aneinander binden. Die einen teilen aus, die anderen sacken ein, und der Wettbewerb der Politik geht darum, wer mehr soziale Nettigkeiten im Angebot hat, um im Gegenzug dafür mehr Wählerstimmen auf sich zu vereinen.
Man muss dem Euro dankbar dafür sein, dass er – gleichsam contre coeur – diese Illusion zerstört hat. Plötzlich wurde offenbar, dass Schulden auch zurück gezahlt werden müssen und dass dies immer unwahrscheinlicher wird, je mehr die Verschuldung wächst. Der Euro hat die Staatsverschuldung bei exorbitant niedrigen Zinsen zunächst befeuert und sie sie dann, als die Zinsen anzogen, als gefährliches Spiel problematisiert, wie Norbert Berthold in „Wirtschaftlichefreiheit.de” gerade gezeigt hat. Die höheren Renditen, die die Märkte verlangen, sind sowohl Ausdruck wie Signal an die Schuldner, die Last werde schwerer werden. Nicht nur Staatsausgaben, auch die Staatsverschuldung wachsen seit fünfzig Jahren kontinuierlich (nicht erst seit der Finanzkrise, wie manche Analytiker mit Kurzzeitgedächtnis gerne hätten). Das läuft zielsicher auf die Pleite zu. Die Eurokrise ist eine Krise der europäischen Wohlfahrtsstaaten. Die einen (Griechenland, Italien) erwischt es gleich, die anderen (Frankreich, Deutschland) erwischt es später. „Europe isn’t working in Europe” schleuderte der republikanische Abgeordnete Mitt Romney jüngst Barack Obama entgegen als Warnung, Amerika nicht zu europäisieren und zu sozialdemokratisieren.
Nun gibt es eine Gruppe ernst zu nehmender Ökonomen, angeführt von Nobelpreisträger Paul Krugman, die fuchsteufelswild werden, wenn jemand sie auf den Zusammenhang von Schuldenkrise, Eurokrise und Wohlfahrtsdynamik anspricht. „Die Eurokrise sagt nichts über die Nachhaltigkeit des Wohlfahrtsstaats”, poltert Krugman. Der Furor ist verständlich: Würde Krugman den Zusammenhang bestätigen, ergäbe sich zwingend die Konsequenz, das Übel müsse an der Wurzel angepackt werden und die Wohlfahrtsstaaten müssten wieder ihr Maß finden, damit die Staaten sich vom Verschuldungswahn befreien können. Was pejorativ Schuldenbremse heißt, ist nichts anderes als ein hartes Austeritätsprogramm für alle: die Einschränkung der Staatsausgaben durch Begrenzung der Staatstätigkeit. Anders geht es nicht.
Weil Krugman und seine Freunde den europäischen Wohlfahrtsstaat prima finden, müssen sie die Eurokrise anders erklären. Sie haben dafür zwei Erzählungen („Narratives”, würde Peer Steinbrück sagen).
(1) Nicht das Ausmaß der Staatsschulden sei Grund für die Krise des Euro, sondern die Tatsache, dass unter dem Regime des Euro die Staaten sich nicht mehr in der eigenen Währung verschulden können. Wäre es anders, müsste England, das höher verschuldet ist als Spanien, auch höhere Zinsen zahlen als Spanien. In Wirklichkeit zahlt England aber niedrigere Zinsen bei höherem Verschuldungsgrad. Das stimmt. In Großbritanien oder USA fungiert die Zentralbank als “Lender of Last Resort” für die Staaten; die EZB tut das als europäische Institution dagegen nicht (was viele deshalb heute gerne hätten). Die Gewissheit, die Zentralbank werde im Falle eines Falles die Schulden monetisieren (und inflationieren) ist deshalb im Euroraum weniger triftig als in Staaten mit eigener Währung, was sich in den höheren Zinsen spiegelt. Mehr noch: Der belgische Ökonomen Paul de Grauwe erklärt den Unterschied zwischen Spanien und Großbritannien folgendermaßen: Anleger, die Spanien nicht trauen, können mühelos und ohne Kursrisiko ihre in Euro notierenden Bonds gegen sichere deutsche Anleihen eintauschen. Die Anleihen der Anleger in Großbritannien sind aber in Pfund notiert. Würden die Anleger diese massenhaft gegen deutsche Euroanleihen tauschen wollen, wäre rasch der Eurogegenwert des Pfundes, den sie dafür erhielten, nicht mehr viel wert: Die Anleger sind im Pfund gefangen, ihre Fluchtgefahr ist geringer als bei Euroanleihen in Spanien. Weil die Flucht im Euoraum einfacher ist, ist der Risikoaufschlag für spanische Euroanleihen höher als für britische. Der Analyse ist nicht zu widersprechen. Doch was folgt daraus? Daraus folgt nur, dass umgekehrt ein Schuh daraus wird, dass nämlich der Euro (ein Gutes hat die Fehlkonstruktion!) schonungslos das Risiko der Staatsverschuldung aufzeigt und die Staaten über den Zins zur Umkehr oder zu Abdankung oder zu beidem zwingt. Staaten, die sich in der eigenen Währung verschulden können (Großbritannien, USA, Japan) wiegen sich angesichts erträglicher Zinsen in der Sicherheit, sie könnten das Schuldenspiel ewig weiter treiben und bräuchten ihren Wohlfahrtsstaat nicht zu züglen. Dass ungebremste Schulden (mit oder ohne Euro) nicht gehen, haben Rogoff und Reinhart bekanntlich schlüssig nachgewiesen. Summa Summarum: Die Eurokrise macht die Krise der Wohlfahrtsstaaten sichtbar. Aber die Krise der Wohlfahrtsstaaten ist fundamentaler als die Eurokrise. Amerika und Japan haben keinen Grund, mit dem Finger auf die Euro-Länder zu zeigen.
(2) Weil Krugmann und seine Freunde den Zusammenhang der Verschuldungskrise mit ausgabenhungrigen Wohlfahrtsstaaten leugnen, konstruieren sie stattdessen eine direkte Verbindung zwischen Staatsschuldenkrise und Finanzkrise. Der geht so: Um die Finanzmärkte zu stützen, mussten die Staaten sich verschulden und mit keynesianischem Stimulus die Welt wieder in Ordnung bringen. So haben sich (z.B. in Spanien) private in öffentliche Schulden gewandelt, mithin die Staaten ausgebadet, was die Märkte angerichtet haben. Wäre die Finanzkrise nicht passiert, hätte es auch keine Staatsschuldenkrise gegeben, so die Logik. Auch das ist Quatsch (siehe oben): Der Beitrag der finanzkrisenbedingten Verschuldung zur Gesamtverschuldung ist vernachlässigbar (in Deutschland beträgt er etwa einen Prozentpunkt). Wenn es das nur wäre, eine einmalige keynesianische Verschuldungssituation, hätten wir heute keine Staatsschulden- und keine Eurokrise! Man kann aber auch hier den Schuh umdrehen: Die Finanzkrise 2008 selbst rührt auch in einer Falle der Wohlfahrtsstaaten. Wie Raghu Rajan nachgewiesen hat, lässt sich die Subprimekrise zurückführen auf staatliche Interventionen am amerikanischen Immobilienmarkt, die das Ziel hatten, jedermann zu Wohneigentum zu bringen, um damit angesichts stagnierender oder fallender Löhne die Einkommensungleichheiten zu kompensieren. Das haben die Banken sich nicht zweimal sagen lassen und ihren Reibach gemacht – woraus die Finanzkrise entstand. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Erst haben die Staaten es übertrieben, dann die Märkte. Nicht umgekehrt.
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