Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Alles Napoleon, oder was?

Deutschland verdanke seine Modernisierung und Industrialisierung den französischen Besatzern, lautete eine steile These. Nun melden Ökonomen Zweifel an. Wie wichtig waren die Reformen?

 

“Am Anfang war Napoleon” – mit diesen Worten hat Thomas Nipperdey seine deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts eingeleitet. Viele Historiker erachten den Einfluss des Korsen und der französischen Besatzung auf Deutschlands Entwicklung als eine entscheidende Weichenstellung. Wichtige Reformen wurden durch französisches Vorbild inspiriert, andere im Zuge einer “defensiven Modernisierung” in Preußen durchgesetzt. Die preußischen Reformer erkannten nach der Niederlage gegen Napoleon, dass ihr Land nur durch eine radikale Modernisierung wirtschaftlich und militärisch wieder auf die Füße kommen und gegen die französische Macht bestehen konnte.

Auch unter Ökonomen, die den Einfluss von Institutionen – also der Rahmenbedingungen – auf die Wirtschaftsentwicklung untersuchen, sind die direkt und indirekt von der französischen Besatzung angestoßenen Reformen ein Forschungsgegenstand. In der “American Economic Review” erschien dazu vor vier Jahren ein aufsehenerregender Aufsatz von Daron Acemoglu (Massachusetts Institute of Technology), Davide Cantoni (Universität München), Simon Johnson (Sloan School of Management, MIT) und James A. Robinson (Harvard University). Sie gaben an, erstmals in einem ökonometrischen Modell die These prüfen und belegen zu können, dass die von der französischen Besatzungsmacht in den linksrheinischen und westdeutschen Gebieten durchgesetzten Reformen entscheidend gewesen seien für die spätere Industrialisierung.

Der Aufsatz von Acemoglu & Co. hat hohe Wellen geschlagen. Vor allem weil es nicht nur um eine historische Frage geht. Letztlich lautete ihre These, dass radikale “Big Bang”-Reformen, die von außen kommen und sogar gewaltsam durchgesetzt werden, in einem unterentwickelten, rückständigen Land langfristig positive Wirkung entfalten können. Wenn man diese These akzeptiert, könnte das weitreichende Folgen für die Entwicklungspolitik haben.

Nun aber ist das Paper von Acemoglu & Co. von zwei anderen Ökonomen in der aktuellen Ausgabe des “Journal of Institutional Economics” heftig attackiert worden. ACJR (so kürzen sie das Acemoglu-Team ab) hätten fatale Fehler gemacht: Zum einen hätten sie wichtige Reformen falsch datiert, was ihre ökonometrischen Ergebnisse insignifikant mache. Zum anderen hätten sie die entscheidende Rolle des Kohlenbergbaus für die Industrialisierung vernachlässigt. Beides zusammen entwerte die These von Acemoglu & Co., behaupten Michael Kopsidis (Leibniz-Institut für Agrarentwicklung und Transformationsökonomien in Halle) und Daniel W. Bromley (University of Wisconsin).

Betrachten wir beide Studien etwas näher. Die Forscher um Acemoglu haben einen Reformindex konstruiert, der für die französisch besetzten Gebiete deutlich höhere Werte ausweist als für die nichtbesetzten Länder westlich und östlich der Elbe. Französisch besetzt waren in den Kriegen nach der Revolution vor allem die linksrheinischen Gebiete. Es kam zu Plünderungen und Chaos, aber auch politisch und wirtschaftlich bedeutenden Reformen. Neben dem Rheinland und der Pfalz, die neunzehn Jahre lang unter direkter Kontrolle Frankreichs standen, errichtete Napoleon in Westfalen und anderswo Satellitenstaaten.

Die Forscher um Acemoglu heben vier Reformfelder hervor: erstens die Einführung des Code Napoléon, der Gleichheit vor dem Gesetz und mehr politische und wirtschaftliche Freiheit brachte, zweitens die Aufhebung der Leibeigenschaft, drittens Agrarreformen und viertens die Abschaffung der Zünfte, die zuvor den Wettbewerb in Handwerk und Industrie behindert hatten. Je früher diese Reformen in einem Gebiet in Kraft traten, desto höher der Reformindex. Dann betrachten Acemoglu & Co. als Ergebnisvariable den Grad der Urbanisierung. Sie steht stellvertretend für das Wohlstandsniveau (und indirekt für die Industrialisierung).

Nach komplizierten Regressionsanalysen und ökonometrischen Tests sehen sie ihre These als belegbar an: Die Beseitigung der alten feudal-korporatistischen Strukturen durch die Franzosen hat in den westdeutschen Gebieten zu einem stärkeren Wirtschaftsaufschwung geführt – aber erst mit erheblicher Verzögerung. In den Daten von 1850 ist nämlich noch nichts von höheren Urbanisierungsraten zu sehen. Erst 1875 und 1900 kann man eine stärkere Entwicklung in Westdeutschland als in den nichtbesetzten Gebieten westlich und östlich der Elbe sehen. Dies sei auf die Langzeitwirkung früherer Reformen zurückzuführen, sie spielten eine “erhebliche Rolle … bei der Schaffung eines Umfeldes, das Innovationen und unternehmerischer Aktivität förderlich ist”.

Die beiden Kritiker sind von den Thesen des Papers und dem angeblichen ökonometrischen Beweis nicht überzeugt. Acemoglus Modell sei fehlerhaft, wichtige Reformen seien falsch datiert worden, und die Hauptursache für die Industrialisierung – nämlich die Rolle der Kohlevorkommen – werde übersehen, kritisieren Kopsidis und Bromley. Warum, fragen sie, sollte es 50 Jahre gedauert haben, bis die französischen Reformen sichtbare Wirkung erzeugten? Die Besatzungszeit sei eher kurz gewesen. Nur fünf Prozent der deutschen Bevölkerung habe länger als sechs Jahre unter französischer Herrschaft gelebt. Nach Ansicht von Kopsidis und Bromley reicht die Erklärungskraft der institutionellen Reformen nicht aus, um das Muster der Industrialisierung in Deutschland zu erklären. Das gelinge erst, wenn man die Konzentration von Kohle im Ruhrgebiet als wichtigsten Rohstoff für die Schwerindustrie erfasse, die nach 1840 mit dem Eisenbahnausbau einen Aufschwung erlebte.

Mit dem Angriff auf das gefeierte Acemoglu-Paper wird die Debatte neu belebt, wie stark institutionelle Reformen von außen Deutschlands Weg in die wirtschaftliche Moderne beschleunigten. Kohle spielte wohl auch eine wichtige Rolle. Aber sie allein war viel zu wenig. Russland beispielsweise hatte jede Menge Kohle- und Eisenerz sowie Massen an billigen Arbeitskräften – und dennoch gab es dort im 19. Jahrhundert kaum Ansätze zur Industrialisierung, einfach weil die alte feudal-agrarische Ordnung erhalten blieb und den Aufstieg neuer unternehmerischer Pioniere verhinderte.

Literatur:

Daron Acemoglu et al.: The Consequences of Radical Reform: The French Revolution, American Economic Review, Dezember 2011

Michael Kopsidis, Daniel W. Bromley: The French revolution and German industrialization: dubious models and doubtful causality, Journal of Institutional Economics, September 2015

Der Beitrag wurde erstmals als “Sonntagsökonom” in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 22. November veröffentlicht.