Von Rainer Hank
„Viel billiger als gegenwärtig ist der Sozialstaat nicht zu haben” sagt Gert Wagner, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. Wagner polemisiert erkennbar gegen meinen Blog-Beitrag „Die überdimensionierten Sozialstaaten sind an der Krise schuld”, spart sich aber Zitat oder Verweis. Guttenberg hätte man das nicht durchgehen lassen, aber als DIW-Chef scheint man sich das leisten zu können. Sei’s drum. Wichtiger sind die Argumente.
Ich nehme mir die beiden zentralen Einwände vor.
1. Einen billigeren Sozialstaat gibt es nicht, sagt Wagner und verweist darauf, dass Deutschland mit 43,6 Prozent Staatsausgabenanteil am BIP im europäischen und internationalen Mittelfeld liegt. Es geht also auch noch teurer (deutlich über 50 Prozent sind möglich und real). Das stimmt, macht die Sache aber nicht besser. Die Slowakei, sagt Wagner, liege mit 32,3 Prozent am unteren Ende. Das stimmt nicht. Ich komme gerade von einer Debatte mit dem Ministerpräsidenten Estlands, Andrus Ansip. Seinem Land gelang es in den vergangenen Jahren trotz Finanzkrise, die Staatsverschuldung von 7,5 auf 5,5 Prozent zu drücken (das ist weniger als Hongkong). Wagner würde vermutlich Estland als Sozialstaat nicht durchgehen lassen. Aber mir sind keine Meldung bekannt, dass dort die Menschen verhungern. Im Gegenteil: Den Esten ist die erfolgreiche Transformation vom egalitären Sozialismus in eine Wohlstand für alle schaffende Marktwirtschaft gelungen, ohne sich von Kontinentaleuropa den ineffizienten Umverteilungsstaat aufschwatzen zu lassen. Auch die Schweiz liegt seit Jahren bei etwa 33 Prozent: Hat irgendjemand behauptet, die Schweiz sei kein Sozialstaat – ein Land, in dem die Leute in Alter, Krankheit oder bei Arbeitslosigkeit nicht abgesichert sind? Die Meldung müsste an mir vorbei gegangen sein.
Gerade den Sozialstaat gibt es – bei vergleichbaren Leistungen – deutlich billiger. 15 bis 20 Prozentpunkte Abschlag sind locker drin. Woran liegt das wohl? Vermutlich daran, dass viel Geld, das ineffizient durch die Hände des Staates geht, gar nicht der Umverteilung von oben nach unten dient, sondern, wie wir seit Aaron Directors Law wissen, der Umverteilung innerhalb der Mittelschicht nützt (Vito Tanzi und Ludger Schuknecht haben das immer wieder präzise nachgewiesen). Das kann Gert Wagner angesichts seiner vielen SOEP-Daten eigentlich nicht entgangen sein. Aber er unterschlägt es, weil er sich offenbar mit seinem Feuilletonstück als Chefideologe der Gabriel-SPD bewerben will.
2. Wagner sagt, das Anwachsen der Staatsschulden seit hundert Jahren hänge nicht mit dem Sozialstaat zusammen. Sein Argument: 20 Prozentpunkte der heutigen Staatsschuld gingen nicht auf das Konto des Sozialstaats, sondern seien der Preis der Wiedervereinigung. Aber wofür wurde dieses Geld im Osten verwendet, lieber Herr Wagner? Doch wohl zum Auf- und Ausbau des Sozialstaates: 15 Millionen Deutsche, die nie „in die Rentenkasse eingezahlt haben”, wie man so sagt, hatten plötzlich den vollen Anspruch auf die deutsche Altersvorsorgung. Kein Wundern, dass wir jährlich 80 Milliarden Euro im Bundeshaushalt für die Rente bereit halten – Geld, das wir uns andernfalls nicht hätten leihen müssen. Und weil das Tarifkartell die Löhne gleich (fast) auf Westniveau angehoben hat, musste die Allgemeinheit zudem mit „Kurzarbeitergeld Null”, einer großen Arbeitslosenindustrie und entsprechenden Lohnersatzleistungen in die Bresche springen. Hat alles mit dem Sozialstaat nichts zu tun, sagt Herr Wagner.
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