Der Schriftsteller beschreibt, wie man auf Kredit lebt. Ob ihn im Athener Finanzministerium schon jemand gelesen hat?
„Je mehr Schulden man hat, desto mehr Kredit hat man.”
In diesen Tagen des größten Schuldenschnitts in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg fliegt uns ein hübscher aktueller Neudruck von „Die Kunst, seine Schulden zu zahlen”, eine Ökonomie-Satire von Honoré de Balzac, auf den Schreibtisch. Das Büchlein beschreibt in zehn Lektionen „Die Kunst, seine Schulden zu zahlen und seine Gläubiger zu befriedigen, ohne auch nur einen Sou selbst aus der Tasche zu nehmen”. Sofort traf uns wie Zeus’ Blitz der Gedanke: Gibt es schon eine griechische Übersetzung?
Sicherlich könnten die Beamten im Athener Finanzministerium einiges lernen – über die delikate gegenseitige Abhängigkeit von Schuldnern und Gläubigern. So riet Balzac, zeitlebens selbst hochverschuldet, allen Schuldnern: „Im Prinzip müssen Sie versuchen, aus allen ihren Gläubigern Freunde zu machen, und zwar Freunde, die Sie wirklich lieben, und die Ihnen das beweisen, indem sie Ihnen weiter Kredit geben.” Die Gläubiger entwickeln zarte Sorge um das gesundheitliche Wohlergehen ihrer Schuldner, denn nur ein lebender Schuldner kann möglicherweise noch etwas zurückzahlen. Ob es nun Liebe und Sorge oder Erpressung und Angst („Wenn der Euro scheitert, scheitert Europa”) sind: Die Rettungskreditspirale in Euroland dreht sich munter weiter. Und am Ende wird sich zeigen, ob jemand noch „die Kunst, seine Schulden zu zahlen” beherrscht. Wir haben da unsere Zweifel.
„Leider gibt es ein stark eingewurzeltes Vorurteil, demnach man früher oder später schließlich doch seine Schulden zahlen muss.” Von den acht beschriebenen Arten, Schulden zu tilgen, betont Balzac vor allem jene: „indem man eine oder mehrere Schulden in eine oder mehrere andere verwandelt” – auch Balzacs Aphorismus „Je mehr Schulden man hat, desto mehr Kredit hat man”, scheint uns die griechische Situation in der Euro-Rettungsorgie gut zu treffen.
Honoré de Balzac (1799 bis 1850) war noch ein junger, unbekannter Autor, als er 1827 dieses „Handbuch des Handelsrechts” anonym herausbrachte. Seine große Romanfolge der „menschlichen Komödie” zeichnet das wilde Sittengemälde einer Epoche und Gesellschaft im Umbruch vom Ancién Régime zum Frühkapitalismus, mit teils üblen Geschäftsleutecharakteren, die keinen Betrug scheuen. Meist triumphierten am Ende die größten Gauner (etwa in den „Verlorenen Illusionen”), die Ehrlichen und Ehrbaren sind die Dummen.
Laut Umschlagtext hat Friedrich Engels 1888 über das satirische „Handbuch” geschrieben, er habe daraus „in den ökonomischen Einzelheiten (zum Beispiel die Neuverteilung des realen und persönlichen Eigentums nach der Revolution) mehr gelernt (…) als von allen berufsmäßigen Historikern, Ökonomen und Statistikern dieser Zeit zusammengenommen.” Balzac vertritt auch eine frühe Art von nachfrageorientierter Theorie, denn nach seiner Ansicht sind es vor allem die auf Kredit lebenden Konsumenten, die überhaupt erst die Wirtschaft und die Produktion in Gang bringen.
In manchem Witz steckt mehr Wahrheit und Weisheit als in einer gelehrten Abhandlung. Aus Sicht von Balzac war die Schulden-Satire ein Witz, aber mit persönlich-bitterem Beigeschmack. Der Genussmensch, Spekulant und Druckerei-Bankrotteur stand permanent in tiefen Schulden, so dass er wie ein Besessener seine Romane und Geschichten schreiben musste, deren vorab gezahlten Honorare er schon längst ausgegeben hatte. Der geniale Schriftsteller schlürfte von früh bis spät in die Nacht unendlich viel Kaffee (angeblich 40 bis 60 Espressi täglich), um sich wach zu halten und den notwendigen gewaltigen literarischen Ausstoß zu erzeugen.
Wenn er mal wieder seine Rechnungen nicht zahlen konnte und die Gläubiger und die Gerichtsvollzieher ihm auf den Fersen war, dann musste er flüchten. „Wer gut zu Fuß ist und ein gutes Auge hat, kann der Freiheit nicht beraubt werden, es sei denn, er will es selbst.” Im Büchlein „Die Kunst, seine Schulden zu zahlen”, finden sich angstvolle Passagen über das Schuldengefängnis Sainte-Pélagie in der Rue de la Clef – und zum Schluss distanziert sich der unter Pseudonym schreibende Autor von den Ansichten der ruchlosen Schuldensünder.
Die Möglichkeit der Flucht vor den Gläubigern ist Griechenland nicht gegeben. Seine Freiheit ist akut gefährdet. Aber es zeigt sich auch: Je größer die Schuld, desto größer das Erpressungspotential.
Honoré de Balzac: Die Kunst, seine Schulden zu zahlen. Verlag J.G. Hoof, 122 Seiten, 9,80 Euro
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