Warum die Welt nicht untergeht, wenn Subventionen für Theater, Museen und Musikschulen gestrichen werden.
Von Rainer Hank
„Kultur” und ihre staatliche Förderung gelten hierzulande als zwingender Bestandteil eines guten und fortschrittlichen Wohlfahrtsstaates. Mustergültig formuliert das Wolfgang Thierse, u.a. Vorsitzender des SPD-Kulturforums und Vizepräsident des Deutschen Bundestags: „Sozialtransfers allein werden die Situation nicht verbessern, es kommt vielmehr gerade auf Teilhabe sm Bildung und Kultur an.” Deshalb gilt auch für Oper, Theater, Ballett, Museum oder Musikschule das Wagnersche Gesetz, wonach die Ausgaben (und damit der Finanzierungsbedarf) des Staates immer nur wachsen, aber nie zurück gehen können. Der Sozialstaat hat Ewigkeitsgarantie und, anders als der Markt, nie ein Wachstums-, dafür allerdings ein Finanzierungsproblem.
Genügten zur ästhetischen Erziehung der Bundesbürger im Jahr 1975 noch 1,8 Milliarden Euro, so gab der Staat 35 Jahre später, im Jahr 2010, gut 9,5 Milliarden aus – eine Steigerung um mehr als das Fünffache. Die Zahl der Musikschulen hat sich seither knapp verdoppelt, die der Museen hat sich seit Anfang der achtziger Jahre verdreifacht. An 84 deutschen Opernhäusern arbeiten 5000 festangestellt Musiker, 3000 Chorsänger und 1300 Solisten. Zwar klagen die Kulturschaffenden regelmäßig über knappe Kassen und schrumpfende Budgets; allein die Zahlen des Statistischen Bundesamtes geben das nicht her (siehe Chart). Seit in den späten siebziger Jahren der legendäre Frankfurter Kulturdezernent Hilmar Hoffmann die Devise „Kultur für alle” (für alle Schichten an allen Orten) zum Programm erhob, ist deren großzügige Subventionierung ein Selbstläufer, dies zu kritisieren dagegen ein Sakrileg.
Das müssen jetzt auch die Verfasser des Buches „Kulturinfarkt” erfahren, die sich die Freiheit nehmen, den teuren Kulturbetrieb infrage zu stellen und dreist behaupten, das Produkt Kultur sei seinen Preis nicht wert. „Völlig überzogen”, ein „neoliberaler Kahlschlag ohne Augenmaß”, schallt es den vier Autoren (allesamt erfahrene Kulturmanager) aus preußischen Stiftungen und vergleichbaren Kulturstaatsbehörden (nebst angeschlossenen Feuilletons) entgegen. „Plattmacher” nennt sie Wolfgang Thierse. Die ökonomischen Argumente werden freilich vom besitzständischen Ressentiment („Von Kultur können wir gar nicht genug haben”) nicht pariert, vielleicht gerade deshalb, weil sie gar nicht einmal schlecht sind: Dass Kunst nämlich, weil ein meritorisches Gut, partout staatlich gefördert werden müsse, bleibt ziemlich unbewiesen (der von potenten Stadtbürgern finanzierte Neubau des Frankfurter Städels beweist das Gegenteil). Unübersehbar aber sind die negativen Auswirkungen eines Kulturbetriebs, der systematisch von der Nachfrage abgeschirmt wird und der Meinung ist, einzig geförderte Kunst sei freie Kunst: Der Bürger wird kulturell entmündigt, seine Zahlungsbereitschaft verkümmert (er glaubt tatsächlich, er könne sich vier Abende von Wagners Ring für 200 Euro kaufen), mögliches Eigenengagement wird erdrosselt.
„Der Staat nimmt den Bürger an der Hand und erklärt ihm, was gute und schlechte Kunst sei”, sagt Pius Knüsel, Direktor der Kulturstiftung Pro Helvetia und einer der Autoren der Studie. Mehr noch: Im Kartell von Kulturkritik und staatlicher Kulturindustrie ist die Ausrichtung an den Präferenzen der Kunden nicht erwünscht. Die „Adorno-Falle” nennen die Autoren des „Kulturinfarkts” diesen Mechanismus, dessen kurz gefasste Formel lautet: „Was gefällt, hat schon verloren.” Denn bekanntlich gibt es ja „kein richtiges Leben im valschen”, wie Robert Gernhardt den Meister grandios verballhornte. Orientierung an den Wünschen des Kunden gilt als geschmacklos und kreativitätstötend. Auf diese Weise immunisiert sich der Kulturbetrieb und enthebt seine Dienste der Legitimation gegenüber Markt und Wettbewerb – mithin gegenüber dem Geschmack der Menschen. Wenn überhaupt versucht wird, marktwirtschaftlich zu argumentieren, dann mit dem zweifelhaften Schema, staatliche Subventionen als „Investitionen” semantisch umzupolen und kulturkeynesianisch zu behaupten, diese generierten über einen Hebel Wachstum und Beschäftigung in der Region. Noch einmal Thierse: „Unser Wohlstand hängt von der Höhe der öffentlichen Investitionen in Kultur ab”.
Ginge es, wie behauptet, der Kulturindustrie wirklich um sozialpolitisch motivierte Umverteilung und demokratische Teilhabe („Kultur für alle”), ließe sich der Betrieb ohne Schaden von Objekt- auf Subjektförderung umstellen. Man müsste nur all jene, die man als bedürftig identifiziert, mit zusätzlichem Geld oder Kulturgutscheinen ausstatten, damit sie sich frei für Goethe, Luigi Nono oder Gerhard Richter entscheiden können. Doch das Prekariat lässt sich im Theater selten blicken. In Wirklichkeit geht es um staatlichen Paternalismus für aufgeklärte Mittelschichten, dessen Kulturanteil an der Steuerprogression autoritär von oben verteilt wird. Als Partner dieses autoritären Paternalismus dient sich die Kunstkritik an, die dem unmündigen Kunstverbraucher sagt, was er von den Angeboten zu halten hat: „Mehr Kritik, schärfere Kritik, rücksichtslosere Kritik.” (Thomas Steinfeld)
Die Autoren des „Kulturinfarkts” fragen, was wäre, gäbe es nur noch die Hälfte der Kultureinrichtungen. Die kulturelle Wüste wäre es jedenfalls nicht. Denn die Bürger erhielten die andere Hälfte ihres Geldes zurück und könnten frei entscheiden, wofür sie es ausgeben: Ein Wettbewerb staatlicher und privater Anbieter würde sie mit E- und U-Kultur aller Art verführen. Und mehr Freiheit gäbe es obendrein. Bis heute ist noch keine Korrelation festgestellt worden zwischen der Höhe der Staatsausgaben und dem Ausmaß der Zufriedenheit der Bürger, der Gleichheit der Lebensverhältnisse oder dem individuellen Wohlstand.
Dieter Haselbach (u.a.): Der Kulturinfarkt. Von allem zu viel und überall das Gleiche. Knaus Verlag, München 2012.
Rainer Hank: Die Pleite-Republik. Wie der Schuldenstaat uns entmündigt und wie wir uns befreien können. Blessing-Verlag, München 2012.