Das Buch “Nudge” hat viele Leute beeindruckt. Es propagiert den liberalen Paternalismus. Doch der ist entweder inhaltsleer oder ganz und gar nicht liberal.
Von Werner Mussler
Nudge („Schubs”). Das klingt ganz harmlos, ebenso wie der Begriff des liberalen Paternalismus, den Richard Thaler und Cass Sunstein in ihrem Buch über den „Nudge” so populär gemacht haben. Der Begriff trifft den Zeitgeist gerade in Deutschland doppelt, in einem politischen und in einem ökonomischen Sinne. Politisch ist er attraktiv, weil er die Kapitalismuskritik seit dem Ausbruch der Finanzkrise auffängt, den wieder mehrheitsfähigen Ruf nach dem „starken Staat” (was immer das genau ist) stützt – und weil wir ja, nicht zu vergessen, trotz allem irgendwie liberal sind. Wir mögen zwar die FDP nicht, konservativ oder gar richtig links sind wir aber doch auch nicht. Liberaler Paternalismus ist insofern ein richtig schöner politischer Kuschelbegriff.
Ök onomisch attraktiv ist der Begriff, weil er die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik und der in den vergangenen Jahren in Mode gekommenen Glücksforschung in vermeintlich konkrete Empfehlungen gießt: Weil der Mensch nicht so rational handelt, wie es die Ökonomik früher glaubte (und wie es für ihn gut wäre), braucht er gelegentlich einen Schubs, um auf den richtigen Weg gebracht zu werden. Klassisch gewordenes Beispiel ist die Gesundheitsvorsorge: Auch wer abstrakt weiß, dass Übergewicht der Gesundheit schadet, bringt es nicht fertig, auf die Schokolade zu verzichten. Der liberale Paternalist will die Schokolade nicht verbieten – aber er plädiert dafür, die Verpackung mit Warnungen vor ihrer Schädlichkeit vollzupflastern oder sie im Supermarkt im hintersten Winkel zu verstecken.
Das Buch ist an dieser Stelle schon mehrfach kritisiert worden, weil es letztlich doch dem Paternalismus ohne Adjektiv Vorschub leistet. Das gilt besonders, wenn der Staat in die Rolle desjenigen schlüpft, der schubst. Mindestens bevormundet er so den Bürger, schlechtestenfalls übt er Zwang aus, wie Philip Plickert hier im Blog festgestellt hat. Freilich bleiben Thaler und Sunstein in der Frage, ob sie wirklich den Staat schubsen lassen wollen, auffällig unpräzise. Das erlaubt es ihnen, sich gegen die Kritik zu immunisieren, sie wollten die Menschen bevormunden oder einer staatlichen Bevormundung das Wort reden. Es gehe doch nur darum, so ihr Argument, den Menschen zu zeigen, dass ihre eigene Präferenzordnung inkonsistent sei – und dass sich das durch einen Schubs beheben lasse.
An dieser Stelle verschwimmen ökonomischer Befund und Politikempfehlung. Aus einer richtigen, aber auch fast trivialen Erkenntnis – dass Individuen nicht völlig rational handeln – folgt der fragwürdige Schluss, dass dieser Mangel von außen korrigiert werden könne und müsse, wenn nicht durch den Staat, so doch mindestens durch den allwissenden wissenschaftlichen Beobachter. Das ist gefährlich. Denn die Erkenntnisse der Verhaltensökonomik sind das eine, mögliche normative Schlüsse daraus das andere. Erstere bestehen im Kern im Befund, dass Individuen über keine konsistente Präferenzordnung verfügen. Letztere laufen darauf hinaus, dass sich die Konsistenz von außen herstellen lässt. Wer so argumentiert, bleibt Paternalist, wie der Heidelberger Ökonom Jan Schnellenbach zeigt: Während der „traditionelle” Paternalist weiß, dass ein bestimmtes Konsumgut – etwa die genannte Tafel Schokolade – schädlich für den Konsumenten ist, weiß der liberale Paternalist, welches Element einer widersprüchlichen Präferenzordnung unvernünftig ist – und schubst den Konsumenten von der Schokolade im Supermarkt weg.
Zwar wollen liberale Paternalisten erklärtermaßen anderen Individuen keine fremden Präferenzen aufzwingen, sondern ihnen nur bessere Entscheidungen bei konfligierenden Präferenzen ermöglichen. Schnellenbach stellt aber die berechtigte Frage, an welchem Maßstab sie sich da ausrichten – woher sie also das Wissen nehmen, welcher Teil einer Präferenzordnung gut und welcher schlecht ist. Sunstein und Thaler schlagen als Maßstab die Handlungen eines Individuums vor, für die es sich entscheiden würde, wäre es mit unbegrenzten Kapazitäten ausgestattet, von keinerlei Willensschwächen geplagt und vollständig informiert. Das ist ein empirisch leeres Konzept, ein Nirwana-Ansatz, der die Realität an einer theoretischen Idealwelt (nämlich am vollständig rationalen Homo Oeconomicus, den die Verhaltensökonomik ja gerade verwirft) misst. Wird dieser Maßstab angewandt, läuft er auf eine Anmaßung von Wissen um die Motive anderer Menschen hinaus.
Wahrscheinlich lassen sich deshalb aus den Präferenzinkonsistenzen schlicht gar keine politischen Konsequenzen ziehen. Sie betreffen „intra-individuelle Probleme” (Schnellenbach): Ein Mangel an Selbstkontrolle, etwa in der Gesundheitsvorsorge, mag einen Konflikt zwischen dem heutigen oder dem späteren Ich auslösen, eine politische Lösung dieses Konflikts ist aber nicht angezeigt, zumindest solange keine negativen Externalitäten bestehen. Vielmehr lässt sich der Konflikt durch Selbstbindung ohne den Staat lösen.
Dafür existiert übrigens ein Markt. Schnellenbach nennt als Beispiel die kommerzielle Internet-Plattform des Yale-Ökonomen Ian Ayres, auf der jedermann bindende Verträge abschließen kann, die ihn zu einer hohen Geldzahlung verpflichten, falls er ein bestimmtes Ziel, etwa einen Gewichtsverlust, bis zu einem gegebenen Termin verfehlt. Vom „Nudge” bleibt also nicht viel. Letztlich ist es unerheblich, ob seine Urheber staatlichen Paternalismus vermeiden wollen. Ihre eigenen Maßstäbe sind paternalistisch. Und wissenschaftlicher Paternalismus ist nicht besser als staatlicher.
Jan Schnellenbach, Wohlwollendes Anschubsen: Was ist mit liberalem Paternalismus zu erreichen und was sind seine Nebenwirkungen?, erscheint in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, https://www.jan-schnellenbach.de/pwp-paternalismus.pdf
Der Beitrag erschien als Sonntagsökonom in der F.A.S. vom 8. April 2012. Die Illustration stammt von Alfons Holtgreve.
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