Drei Juristen, sieben Meinungen – so geht der alte Witz. Auch über Ökonomen heißt es, dass sie in wichtigen Fragen völlig uneins seien. So wurde in der großen Rezession heftig über staatliche Konjunkturprogramme gestritten. Zwei amerikanische Präsidentenberater errechneten für Obamas Konjunkturpaket einen hohen Multiplikator (große positive Effekte auf die Privatwirtschaft). Ein konservativer Kollege konterte, das sei “Voodoo Economics”. In Deutschland haben widersprüchliche Ökonomenaufrufe zur EU-“Bankenunion” die Öffentlichkeit verwirrt (hier, hier und hier). Andere Streitfragen sind: Sparen die Krisenländer zu viel oder zu wenig? Ist die Währungsunion grundlegend falsch konstruiert – oder fehlen nur strengere Regeln?
Für das Ansehen einer Wissenschaft spielt es eine große Rolle, ob sie als politisch neutral oder als ideologisch angesehen wird. Vertreten Ökonomen in wichtigen Fragen unterschiedliche Meinungen, weil sie politische Vorlieben haben? Oder gibt es doch einen wissenschaftlich etablierten Konsens?
In der Vergangenheit gab es berühmte Frontlinien: Keynesianer contra Monetaristen. Man sprach in den siebziger Jahren in Amerika von der Süßwasser- und der Salzwasser-Schule in der Makroökonomie, die über die Wirksamkeit keynesianischer Konjunkturpolitik stritten. Chicago (an der Spitze Milton Friedman), Rochester, Minneapolis und Pittsburgh – die Städte liegen alle an Süßwasserseen – waren die Hochburgen der anti-keynesianischen Ökonomen. In Harvard, Berkeley, Princeton und Yale sowie besonders am MIT in Cambridge (mit Paul Samuelson und Robert Solow) saßen die Verteidiger der keynesianischen Lehre.
Vereinfacht kann man von einer Rechts-links-Trennung sprechen: Die eine Seite vertraut der ordnenden Kraft des Markts und bevorzugt marktwirtschaftliche Lösungen. Chicago galt und gilt als die Hochburg der “rechten”, streng marktwirtschaftlichen Ökonomen. Die andere Seite dagegen betont, dass Märkte zu Instabilität neigen, dass es Marktversagen gibt und dass der Staat regulieren, intervenieren, umverteilen muss. Solche linksliberalen Ansichten werden eher in Harvard und Yale vertreten.
Aber gibt es wirklich eine strikte Lagerbildung zwischen liberal-konservativen und linksliberalen Ökonomen? Roger Gordon und Gordon B. Dahl haben das “IGM Economic Experts Panel”, eine Umfrage unter 41 Wirtschaftsprofessoren von acht Top-Universitäten (Berkeley, Chicago, Harvard, MIT, Princeton, Rochester, Stanford und Yale), ausgewertet. Sie haben eher das Gegenteil gefunden: Es gibt keine Links-rechts-Trennung, es überwiegt stattdessen ein professioneller Konsens bei den allermeisten Fragen. Im IGM Panel werden die Ökonomen in ein- bis zweiwöchentlichem Rhythmus zu Streitfragen befragt. Die Antworten werden im Internet veröffentlicht (auf www.igmchicago.org). Mal geht es um die amerikanische Geldpolitik, mal um die Steuer- und Schuldenpolitik, mal um die Gesundheitsreform. Es geht um Drogen, Umweltsteuern, Gold als Währung, Ungleichheit, Managergehälter, Freihandel, die “Too big to fail”-Problematik im Finanzsektor, Bildungsgutscheine, die chinesische Wechselkurspolitik, Kubas Wirtschaftsprobleme, französische Arbeitsmarktregulierung, Italiens Schuldenberg oder die Krise der Europäischen Währungsunion.
Eine statistische Analyse der Antworten zeigt, dass es sehr große Übereinstimmungen gibt, sofern zu dem Thema eine breite wissenschaftliche Literatur mit theoretischen und empirischen Untersuchungen existiert. Bei 32 von 80 Abstimmungen gab es kaum oder gar keine Meinungsunterschiede. Schwieriger war es, wenn zu einem Thema keine oder wenig wissenschaftliche Untersuchungen vorliegen. Dann gab es viele Enthaltungen oder ein geteiltes Meinungsbild.
Am meisten klafften die Antworten bei fünf kontroversen Fragen auseinander: zu den ökonomischen Auswirkungen der Fracking-Technik in der Erdgasförderung (Bringt das Amerikas Re-Industrialisierung?) oder zur Besteuerung von süßen Softdrinks (mehr oder weniger Fettleibige?). Uneinigkeit gibt es auch zur Euro-Krise: Ist ein großer Schuldenschnitt für die Euro-Krisenländer eine Voraussetzung für ein Ende der Krise und für eine Rückkehr des Wachstums? Eine Mehrheit der Ökonomen war davon überzeugt, ein Fünftel skeptisch. Auch in Bildungsfragen gab es erhebliche Uneinigkeit.
Zu fast allen anderen Fragen war jedoch das Meinungsbild ziemlich eindeutig. Zum Beispiel: Niedrigere Steuern führen zu höherem Wirtschaftswachstum. Oder: Freihandel bringt größere Effizienz der Produktion und mehr Wahlfreiheit für die Konsumenten, langfristig überwiegen die Gewinne alle möglichen Auswirkungen auf die Beschäftigung. Dem stimmten drei Viertel der Ökonomen zu. Zur Problematik der Banken, die “zu groß zum Scheitern” sind, sagten die Ökonomen mehrheitlich, die Regierung sollte die Banken schrumpfen. Der wirtschaftliche Nutzen von Banken mit Billionenbilanzen sei gering.
Der Konsens unter den Ökonomen erstreckt sich dabei über Parteigrenzen hinweg, fanden Gordon und Dahl heraus. Es gebe keine klare Polarisierung, betonen sie. Interessant dabei: Männer trauten sich eher, eine Meinung zu vertreten, auch wenn diese vielleicht nicht dem Konsens entspricht. Frauen waren zurückhaltender. Wer in Washington als Berater gearbeitet hatte, war eher meinungsstark. Mit steigendem Alter nahm zudem die Wahrscheinlichkeit abweichender Meinungen zu – vielleicht weil ein Ökonom, der seine Karriere schon gemacht und nichts mehr zu verlieren hat, sich eher Zweifel an der Mehrheitsmeinung erlaubt.
Insgesamt sehen Gordon und Dahl ihre Hypothese bestätigt, dass es keine abgrenzbaren liberal-konservativen und linksliberalen Lager unter den Ökonomen gibt. Nicht jeder wird dieses Ergebnis glauben. Noch heute fällt doch auf, dass einige Ökonomen konsistent eher pro Markt oder pro Intervention argumentieren. Dass die Wirtschaftswissenschaft überhaupt nicht von politischen Werturteilen geprägt sein soll, erscheint utopisch. Sie ist und bleibt eine Sozialwissenschaft, die keine naturwissenschaftlich exakten Ergebnisse hervorbringt.
Der Beitrag ist in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 10. Februar als “Sönntagsökonom” veröffentlicht worden. Die Illustration stammt von Alfons Holtgreve.