Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

China will ein Wirtschaftswunder

Innovation lässt sich nicht amtlich verordnen. Aber China tut alles dazu, bald richtig kreativ zu werden.

Vernetzte Maschinen, Cloud Computing und Big Data sind dabei, die industrielle Fertigung zu revolutionieren. Der in Deutschland vielbeschworene und inzwischen auch im Ausland diskutierte Übergang zur vernetzten „Industrie 4.0“ wird Produktionsprozesse und Wettbewerbsstrukturen grundlegend verändern. Das stößt auch in China auf Interesse. Denn mit Hilfe von Zukunftstechnologien will China zu einer weltweit führenden Industriemacht aufsteigen – mindestens auf Augenhöhe mit den Vereinigten Staaten, Deutschland, Japan und Südkorea.

Noch liegt das Land auf dem Weg zur vernetzten Industrieproduktion weit zurück. In Chinas Automobilindustrie kommen auf 10 000 Beschäftigte nur 281 Roboter, in Deutschland sind es 1140. Zwar sind Investitionen in Forschung und Entwicklung und der Umfang staatlicher Förderprogramme kontinuierlich gestiegen. Chinesische Patentanmeldungen mit Bezug zur „Industrie 4.0“ übertreffen sogar die aus Deutschland. Die Technologielücke zu den Industrienationen konnte China dadurch allerdings kaum verkleinern. Denn Innovation lässt sich nicht von oben verordnen. Zu sehr geht es der chinesischen Regierungspolitik bislang um quantitative Ziele und nicht um Innovation als Geschäftsmodell. Zu wenig investieren die meisten chinesischen Unternehmen in Forschung und Entwicklung, moderne Produktionstechnologien und gut ausgebildete Mitarbeiter. Nur in wenigen Firmen – meist in Großunternehmen mit ausländischer Beteiligung – sind die Fachkräfte ausreichend qualifiziert.

Wie China angesichts dieser Diskrepanz dennoch technologisch aufschließen kann, wird dort kontrovers diskutiert. Nach Ansicht von He Chuanqi, einem der wichtigsten chinesischen Innovationsforscher, geht es für China mit Blick auf industrielle Zukunftstechnologien um alles oder nichts: Wenn China eine Führungsrolle in den neuen Technologieentwicklungen erobern könne, „dann werden wir die Innovationen und Patente der neuen industriellen Revolution hervorbringen und ein ‚Chinesisches Wunder‘ schaffen“. Wenn China in der Zukunftstechnologien aber nicht vorankomme, werde es in seinem ökonomischen „Wiederaufstieg“ in die Klemme geraten zwischen etablierten Industrieökonomien einerseits und kostengünstigeren Industriestandorten in Asien, Afrika und Lateinamerika andererseits.

He Chuanqi und seinen Koautoren zufolge muss China zwei strategische Chancen für technologische Durchbrüche nutzen: erstens die digitale Verknüpfung der physischen und virtuellen Welt im „Internet der Dinge“. Und zweitens – gleichsam für übermorgen – die konsequente Förderung und Nutzung der in Europa weithin unterschätzten, revolutionären Potentiale der Biotechnologien.

Die erste Gelegenheit zur technischen Aufholjagd betreffe vernetzte und intelligente Produktionsanlagen, Fahrzeuge und Stromnetze. Mit der kürzlich verabschiedeten „Made in China 2025“-Strategie setzt Chinas Regierung die Digitalisierung der Industrie ganz oben auf die Agenda. Steigende Lohnkosten erhöhen den Druck, in Automatisierung und IT zu investieren. Im Fokus der „Made in China 2025“-Strategie stehen neben Informations- und Automatisierungstechnologien auch Luft- und Raumfahrt, Elektromobilität, Stromnetze, neue Materialien und biopharmazeutische Industrie. Hier will China ausländische Technologieimporte sukzessive durch eigene Innovationen ersetzen. Schon in naher Zukunft sollen chinesische Unternehmen nicht nur in Infrastruktur-Großprojekten global führend sein, sondern auch qualitativ hochwertige Flugzeuge, Maschinen und Anlagen im Ausland anbieten.

Deutschland ist Chinas Referenzmodell für fortgeschrittene industrielle Technologien und Organisationsformen. Was China am deutschen Konzept der Industrie 4.0 fasziniert, sind Präzision, Qualität und Zuverlässigkeit. Es soll Chinas Sprungbrett zur „Industrie-Supermacht“ werden. Für Siemens, Bosch, SAP und den deutschen Mittelstand eröffnen diese Entwicklungen große Geschäftschancen. Deutsche Unternehmen gehören zu den wichtigsten Technologieanbietern in der Umsetzung der intelligenten und vernetzten Fertigung. Einzelne global aktive chinesische Unternehmen wie etwa der Maschinenbauer Sany oder der Haushaltsgerätehersteller Haier schreiten mit Pilotfabriken voran und wollen sich zu schlagkräftigen Konkurrenten auf dem Weltmarkt entwickeln. Chinas IT-Riesen – von Alibaba bis Huawei – investieren ebenfalls in neue kommerzielle Anwendungen und Datennetze für das Internet der Dinge.

Der studierte Biologe He Chuanqi verweist als Vordenker des chinesischen Innovationssystems bereits auf wegbereitende Innovationen in der Biotechnologie von übermorgen. In Verbindung mit Informations- und Nanotechnologien erwartet er etwa mit Blick auf transgene Nutzpflanzen, Krebszellen zerstörende Nanoroboter oder Mensch-Maschinen (Cyborgs) gewaltige Entwicklungssprünge und völlig neuartige Geschäftsfelder. Da gesellschaftliche und politische Wider- stände gegen biologische und nanotechnologische Innovationen in China viel geringer seien als in anderen Ländern, böten sich für chinesische Unternehmen auf diesen Feldern besonders gute Chancen, globale Technologieführer zu werden. Biotech-Institute wie der Genom-Sequenzier-Spezialist BGI in Shenzhen gelten hier als Speerspitzen.

Die Forschergruppe um He Chuanqi schreibt vorsichtig, dass China voraus- sichtlich erst im Jahr 2100 zu den führenden Industrienationen aufsteigen werde. Chinas Regierung strebt dies bereits für die Mitte dieses Jahrhunderts an. Aus deutscher Sicht wäre es ein großer Fehler, von Chinas gegenwärtigem Technologierückstand auf einen gesicherten künftigen Vorsprung zu schließen. Neue Technologien und Technologieführer können binnen kürzester Zeit bestehende Märkte aus den Angeln heben und etablierte Platzhirsche zermalmen. Den tiefen und schnellen Fall der Mobilfunksparte von Nokia müssen alle Europäer stets als warnendes Beispiel für die selbstzerstörerische Wirkung technologischer Selbstgefälligkeit und unternehmerischer Trägheit vor Augen haben.

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Der Autor ist Direktor des Mercator Instituts für China-Studien (MERICS) in Berlin und Professor für Politik und Wirtschaft Chinas an der Universität Trier.

He Chuanqi, „Analyse der wissenschaftlichen Grundlagen und der Politikprogramme des chinesischen Wiederaufstiegs“, in: Internationale wissenschaftlich-technische F&E, 2013, Heft Nr. 2 (in chinesischer Sprache).

Guo Lian, Luan Liwei, He Chuanqi, Ye Qing, „Innovations- getriebene Entwicklung muss die strategischen Chancen der neuen industriellen Revolutionen nutzen“, in: Theorie und Modernisierung, 2014, Heft Nr. 4 (in chinesischer Sprache).