Deutschlands führende Ökonomen sehen die Einkommensungleichheit hierzulande gelassen. Das zeigte sich bei einer Podiumsdiskussion der Chefs der Wirtschaftsforschungsinstitute bei der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik am Mittwoch in Münster. Deutschland hat zwar laut OECD-Daten im internationalen Vergleich eine recht hohe Ungleichheit der Markt-Einkommen. Aber durch Besteuerung und Sozialleistungen werden die Unterschiede erheblich nivelliert. „Ein großes Problem ist die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen nicht“, sagte Christoph Schmidt, Vorsitzender des Sachverständigenrates und Chef des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI). Eher sei er besorgt über andere Probleme, auch soziale Probleme wie die bei der Alterung der Gesellschaft stark zunehmende Demenz oder Einsamkeit alter Menschen, oder die globalen Umwelt- und Klimaprobleme.
Die Ungleichheitsdebatte sei ein „gehyptes“ Thema. Auch der Wirtschaftsweise Lars Feld betonte, wie stark der Steuerstaat die Nettoeinkommen ausgleiche: „Der deutsche Wohlfahrtsstaat funktioniert recht gut“, sagte er. Clemens Fuest, Chef des ZEW ergänzte, dass nur zwei OECD-Länder noch mehr umverteilten als Deutschland. Die Ungleichheit der Einkommen sei zwar seit den neunziger Jahren gestiegen, aber seit 2006 sei diese Entwicklung zum Stillstand gekommen. Allerdings ist die Nivellierung der Nettoeinkommen eher die Folge der progressiven Besteuerung denn des Sozialstaates. Ein Großteil der staatlichen Förderungen gehe „von der linken Tasche der Mittelschicht in die rechte Tasche der Mittelschicht“, sagte der Chef des Instituts für Weltwirtschaft, Dennis Snower.
Ifo-Chef Hans-Werner Sinn betonte, dass mit der Agenda-2010-Politik vor gut zehn Jahren bewusst ein Niedriglohnsektor geschaffen wurde. Gleichzeitig wurden aber niedrige Einkommen durch Zuschüsse aufgestockt. Die Agenda-Politik habe mehr als 2 Millionen Arbeitsplätze geschaffen. „Der Spruch ‚Sozial ist, was Arbeit schafft’ wurde hier wirklich bestätigt“, sagte Feld dazu. Nun aber werde durch den gesetzlichen Mindestlohn eine neue Hürde für Geringqualifizierte eingezogen, kritisierten mehrere der Ökonomen. Es werde schwieriger für Geringqualifizierte, Arbeit zu finden.“ Als der Direktor des Arbeitsmarktforschungsinstituts IAB Joachim Möller einwandte, dass keine negativen Beschäftigungseffekte durch den Mindestlohn zu sehen seien, gab es lebhaften Widerspruch vom Podium: Derzeit werde alles von der guten Konjunktur überdeckt. „Keine kann jetzt schon – im Aufschwung – Entwarnung geben“, sagte RWI-Chef Schmidt. Und Ifo-Chef Sinn warnte, wenn mehr als eine Million Zuwanderer – zum großen Teil Asylsuchende – kämen, werde es massive Effekte geben.
Die Ökonomen waren sich weitgehend einig, dass der Fokus weniger auf die Einkommensgleichheit als auf die Chancengleichheit zu richten sei. IfW-Chef Snower sagte, dass die soziale Mobilität geringer geworden sei. ZEW-Chef Fuest sagte hingegen, sein Institut habe eine Zunahme der Chancengleichheit gemessen. Faktoren wie das Elternhaus spielten für das Einkommen nicht mehr so eine große Rolle. Reint Gropp, der Chef des IWH aus Halle, sagte, Sorge bereiteten die ererbten Ungleichheiten der Vermögen. Schmidt sagte, die Gefahr, dass durch die Vermögensungleichheit auch politische Macht ausgeübt werde, sehe er nicht. Eine „Trump- oder Berlusconi-Gefahr“ gebe es hierzulande nicht.
Ifo-Chef Sinn betonte mehrfach und vehement, dass er für einen Wohlfahrtsstaat sei – der als eine Versicherung gegen die Wechselfälle und möglichen Benachteiligungen und Schläge des Schicksals wirke. In einer Argumentation, die an John Rawls erinnerte, plädierte Sinn dafür, dass sich rationale Bürger in einer Vereinbarung für einen Sozialstaat entschieden. Die reine Marktwirtschaft sei nicht sozial, sagte Sinn, der gerade von Gewerkschaftsseite oft unterstellt wurde, er wolle den Sozialstaat demontieren. Noch pointierter war Sinns Schuss gegen den von Lars Feld betonten Begriff der Leistungsgerechtigkeit, die sich in den Markteinkommen ausdrücke. Der Begriff gefalle ihm nicht, sagte Sinn. Er sei sogar “apologetisch”, weil er die bestehenden hohen Markteinkommensunterschiede rechtfertige. Nicht alles, was an Einkommensunterschieden bestehe, sei auf unterschiedliche Leistung und Grenznutzen zurückzuführen.
Des weiteren debattierten die Institute-Chefs über die Frage, ob der technische Fortschritt – die Computer- und Digital-Revolution – in Zukunft zu mehr Ungleichheit führen werde. Das sei schwer zu prognostizieren, war der allgemeine Tenor. Fuest betonte indes, dass die Globalisierung nicht zu mehr Ungleichheit, sondern weniger Ungleichheit geführt habe: Indem sie in China und anderswo das Aufkommen einer Hunderte Millionen Menschen umfassenden Mittelschicht ermöglicht habe.