Philipp Harms hat ein führendes Fachbuch über internationale Wirtschaftsbeziehungen geschrieben. Die erste Auflage erschien vor der Finanzkrise, die zweite jetzt. Was hat sich geändert?
Professor Harms, Sie haben eines der führenden Lehrbücher über internationale Wirtschaftszusammenhänge im deutschsprachigen Raum geschrieben. Die erste Version im Jahr 2008, als die Finanzkrise eskalierte, die zweite erscheint nun, acht Jahre und viele Wirtschaftsturbulenzen später. Ist das nun ein komplett neues Buch?
Ja und Nein. Nein, weil der methodische Ansatz der ersten Auflage beibehalten wird. An der Tatsache, dass Spar- und Investitionsentscheidungen – und damit auch die Leistungsbilanz – auf intertemporale Kalküle von Haushalten, Firmen und Regierungen zurückgehen, hat sich durch die verschiedenen Finanzkrisen der vergangenen Jahre ja nichts geändert. Was sich allerdings stark geändert hat, sind zum einen verschiedene Regelungen – etwa zur Systematik der Zahlungsbilanz –, über die die Leserinnen und Leser Bescheid wissen müssen. Und natürlich hat sich der Blick auf die Auswirkungen der „financial globalization“ deutlich gewandelt: Zum einen ist uns die Krisenanfälligkeit deregulierter Märkte stärker bewusst als 2008. Darüber hinaus sehen wir die Verteilungseffekte der Globalisierung (und die damit verbundenen Konflikte) klarer als noch vor zehn Jahren. Diese Entwicklungen greift das Buch immer wieder auf.
Als zwei Lehren aus der Finanzkrise für die neue Version Ihres Buches nennen Sie ein geringeres Vertrauen in die Effizienz von Finanzmärkten und eine weniger optimistische Sicht auf Vorteile internationaler Kapitalströme. Was folgt daraus?
Um die Jahrtausendwende hatte sich ein Konsens herausgebildet, dass die Regulierung internationaler Kapitalströme bestenfalls wirkungslos, wenn nicht sogar kontraproduktiv sei. Dies sieht man inzwischen aus mindestens zwei Gründen anders: Zum einen haben die Erfahrungen der letzten Jahre gezeigt, welche Risiken eine starke globale Vernetzung von Finanzinstitutionen mit sich bringen kann. Zum anderen bietet die empirische Evidenz keinen starken Beleg für die Vermutung, dass Länder, die stärker in den internationalen Finanzmarkt integriert sind, schneller wachsen. Als Folge stehen selbst Institutionen wie der IWF inzwischen einer Beschränkung internationaler Finanztransaktionen sehr viel positiver gegenüber. Diese Diskussion wird in dem Buch nachvollzogen. Mir ist dabei allerdings wichtig, den Lesern zu zeigen, dass eine angemessene Regulierung zunächst das Marktversagen identifizieren muss, welches eine staatliche Intervention rechtfertigt.
Es gibt außerdem ein eigenes Kapitel darüber, wie die Solvenz und Kreditwürdigkeit von Staaten bewertet werden kann, und einen Abschnitt, der sich mit Finanzkrisen beschäftigt – mit den wegweisenden Modellen von Paul Krugman aus dem Jahr 1979 und Maurice Obstfeld aus dem Jahr 1996 etwa. Sind diese Passagen in Ihrem Buch nur aufgrund der Finanzkrise entstanden?
Die entsprechenden Abschnitte gab es auch schon in der deutschen Auflage von 2008, sie haben jetzt aber ein stärkeres Gewicht – insbesondere, weil inzwischen klar ist, dass Staatsbankrotte und Finanzkrisen nicht nur in Entwicklungs- und Schwellenländern stattfinden. Aus der Analyse der Zahlungsbilanzkrisen des 20. Jahrhunderts, also aus dem Krugman-Modell und dem Obstfeld-Modell, lässt sich viel lernen. Und doch hatten die Globale Finanzkrise und die Euro-Krise andere Ursachen und andere Symptome: Die globale Finanzkrise war vor allem das Ergebnis eines global vernetzten Finanzsektors. Es gab 2007/2008 schlicht zu wenige „Firewalls“, die eine Eskalation der Turbulenzen auf dem amerikanischen Immobilienmarkt zu einer globalen Finanzkrise verhindert hätten. Die „Euro-Krise“ war ein klassischer „Sudden Stop“ – also das plötzliche Versiegen von Kapitalströmen in die sogenannten GIIPS-Länder. Nur spielte der Wechselkurs hier eine ganz andere Rolle als während der asiatischen Turbulenzen der Jahre 1997/98: Während es damals drastische Abwertungen waren, die die Volkswirtschaften in die Knie zwangen, erwies sich während der „Euro-Krise“ das Fehlen einer Anpassung über den Wechselkurs als Teil des Problems.
Halten Sie angesichts der vergangenen Jahre heute eigentlich eigene Vorlesungen nur über Finanzkrisen? Ist das Thema nun außerdem ein Standard-Abschnitt in einer „normalen“ Vorlesung über internationale Wirtschaftsbeziehungen?
Ein Abschnitt über Defaults und Enteignungen gehörte auch schon vor den Krisen der vergangenen Jahre zum Kern meiner Lehrveranstaltungen. Vor dem Hintergrund der geringen Durchsetzbarkeit internationaler Forderungen ist ja nicht erstaunlich, dass es immer wieder zu Zahlungsverweigerungen kommt. Überraschend ist vielmehr, dass dies nicht ständig geschieht. Die zentrale Frage lautet, wie es sein kann, dass ich jemandem am anderen Ende der Welt meine Ersparnisse überlasse – sei es in Form eines Kredits oder als Unternehmensbeteiligung – und damit rechnen kann, dass ich das Geld tatsächlich wieder zurückbekomme. Nur wenn wir eine gute Antwort auf diese Frage gefunden haben, das heißt, wenn wir die Mechanismen verstehen, die ausländische Schuldner von einem Default abhalten, sind wir in der Lage, die Stabilität des internationalen Kapitalmarkts einzuschätzen. Diese Perspektive halte ich für extrem wichtig.
Ist das Interesse von Seiten der Studenten denn aufgrund der vergangenen Jahre an Ihrem Fach gestiegen? Drängen die Sie beispielsweise dazu, ein Seminar zur Euro-Krise zu geben?
Nein, noch nicht. Aber vielen Dank für die Anregung! Das Problem ist, dass die Wissenschaft immer einige Zeit braucht, bis bestimmte Episoden seriös aufgearbeitet sind. Wir haben inzwischen eine kohärente Darstellung der „Globalen Finanzkrise“, über die korrekte Interpretation der „Euro-Krise“ wird dagegen noch gestritten. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass wir den tagesaktuellen Ereignissen immer um einige Jahre hinterherhinken. Nach der Brexit-Entscheidung haben die Studierenden zum Beispiel eine Diskussion der Ursachen und Auswirkungen eingefordert.
Die zweite Auflage Ihres Buches ist nun auf Englisch erschienen. Wieso eigentlich?
Tatsächlich unterrichte ich die entsprechenden Kurse an der Johannes Gutenberg-Universität seit Jahren in englischer Sprache – und viele Kolleginnen und Kollegen im deutschen Sprachraum machen dies auch. Diese Entscheidung liegt zum einen daran, dass wir den deutschen Studierenden eine Kompetenz mitgeben wollen, die sie für eine berufliche Laufbahn in einem internationalen Umfeld qualifiziert. Hinzu kommt ein verändertes Studienpublikum, das in zunehmendem Maße aus dem nicht-deutschsprachigen Ausland kommt. Diese Studierenden haben in der Regel einige Deutschkenntnisse, die sie dann während ihres Aufenthalts deutlich verbessern. Der Unterricht in Englisch erlaubt ihnen aber von Anfang an, ein anspruchsvolles Studium zu absolvieren. Im Idealfall sprechen sie am Ende des Programms beide Sprachen und sind fit für den deutschen Arbeitsmarkt. Es ist mir allerdings auch ein Anliegen, dass die deutschsprachigen Studierenden die deutschen Fachbegriffe kennen. Eine Liste mit entsprechenden Termini stelle ich daher auf der Homepage zur Verfügung.
Schließlich möchten wir natürlich auch wissen, was der Fachmann zu aktuellen großen Themen sagt. Eines ist der angestrebte Austritt der Briten aus der EU. Welche Folgen für den Wohlstand beider „Länder“ hat das denn nach der Theorie?
Das ist eine Rechnung mit sehr vielen Unbekannten. In erster Linie hängen die Folgen vom Ergebnis der Austrittsverhandlungen ab. Sollte es zu einem starken Rückgang des Austauschs von Waren und Dienstleistungen zwischen Großbritannien und Kontinentaleuropa kommen, ist dies sicher für beide Seiten schädlich. Außerdem kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie verschiedene englische Branchen den Abschied der europäischen Migranten verkraften werden, die man ja offenbar loswerden will. Hinzu kommt schließlich die herausragende Bedeutung des Finanzsektors für die britische Wirtschaft: Mit dem Austritt aus der EU fallen viele Automatismen weg, die bisher die prominente Stellung britischer Banken im europäischen Kontext unterstützt haben. Ich bin skeptisch, dass sich dies durch ein verstärktes Engagement auf außereuropäischer Ebene kompensieren lässt. Was mir aber am meisten Sorgen macht, ist die Möglichkeit, dass die heterogenen Interessen innerhalb der Rest-EU, wie mit Großbritannien umgegangen werden soll, das europäische Projekt im Laufe der Austrittsverhandlungen weiter unter Stress setzen werden.
Außerdem ist die Globalisierung offenkundig ziemlich in Verruf geraten, wenn man sich jüngste Wahlen in vielen Industrieländern ansieht oder Entstehung und Erstarken eher nationalistischer Parteien. An den wirtschaftlichen Vorteilen hat sich der Theorie nach aber nichts geändert – was ist da los?
Darauf gibt es eine einfache und eine weniger einfache Antwort. Zum einen zeigen sich in der derzeitigen Anti-Globalisierungsstimmung die Verteilungskonflikte, die die Integration der Waren-, Dienstleistungs- und Finanzmärkte mit sich gebracht haben. Es ist kein Wunder, wenn diejenigen, die aufgrund ausländischer Konkurrenz oder der Verlagerung von Produktionsaktivitäten Einkommenseinbußen hinnehmen müssen, keine begeisterten Fans der Globalisierung sind. Solche Konflikte haben seriöse Ökonomen nie in Frage gestellt, und ich thematisiere sie auch immer wieder in meinem Buch. Es ist Aufgabe des Staates, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass die Wohlfahrtsgewinne der Globalisierung breit verteilt werden. Allerdings müssen wir auch zur Kenntnis nehmen, dass politische Positionen nicht immer mit Blick auf Verteilungsinteressen erklärt werden können. Beispielsweise ist mir ein Rätsel, warum so viele britische Rentner, die ja auf günstige Pflegekräfte angewiesen sind, für den Brexit gestimmt haben, und auch die deutschen Rechtspopulisten stellen ja mit ihren Forderungen gerade den Wohlstand in Frage, auf den sie so stolz sind. Hier stößt die rein ökonomische Analyse an ihre Grenzen, und die Politik muss eine sehr viel komplexere Aufgabe lösen.
Das Lehrbuch “International Macroeconomics” von Philipp Harms ist gerade in der zweiten Auflage im Verlag Mohr Siebeck erschienen und kostet 34 Euro.