Der Mythos des einst renommiertesten deutschen Ökonomengremiums ist fast aufgezehrt.
Von Heike Göbel
Beatrice Weder di Mauro verlässt den Sachverständigenrat zur Vermeidung „auch nur eines Anscheins eines Interessenkonflikts”. Die Makroökonomin und Finanzmarkt-Expertin wird in den Verwaltungsrat der Schweizer Großbank UBS einziehen. Zwar sitzt sie schon im Verwaltungsrat von Roche und in den Aufsichtsräten von Thyssen-Krupp und Ergo, aber das war bislang kein Hinderungsgrund für ihre Arbeit in der von der Bundesregierung berufenen unabhängigen Wirtschaftsberater-Gruppe. Ganz glaubhaft scheint der Grund ihres Ausscheidens aus dem ehrwürdigen Gremium nach acht Jahren daher nicht. Vielleicht ist Weder di Mauro (Foto: dpa) ja auch einfach zu der Erkenntnis gelangt, dass der Einfluss des Sachverständigenrats auf Politik und seine Wirkung in der Öffentlichkeit derzeit eher begrenzt ist, persönlicher Aufwand und Nutzen also vielleicht nicht länger in einem angemessenen Verhältnis stehen.
In der Öffentlichkeit dringt der Rat mit seinen Vorschlägen kaum noch durch. In der Konkurrenz um die ökonomische Deutungshoheit verlieren die fünf immer noch oft als „Weisen” bezeichneten Wirtschaftswissenschaftler kontinuierlich an Bedeutung. Besonders gut zu beobachten ist das in der nun zwei Jahre währenden Auseinandersetzung über die Zukunft der Europäischen Währungsunion. Da sind die Bankenvolkswirte mit ihren mächtigen Stäben, die sich tagtäglich mit einem Urteil zum letzten Stand der Eurodebatte zu Wort melden. Präsenter als der Rat zeigen sich auch einzelne engagierte Ökonomen wie Hans-Werner Sinn vom Ifo-Institut oder Clemens Fuest, der derzeit noch in Oxford forschende Finanzwissenschaftler. Auch renommierte angelsächsische Ökonomen gewinnen zunehmend Einfluss auf die deutsche Wirtschaftspolitik: über Interviews, aktuelle Publikationen und Konferenzbeiträge. Kurzum: Man hat nicht den Eindruck, dass sich die Bundeskanzlerin in besonderem Maße um Beratung mit den Wissenschaftlern ihres Rats bemühen würde, oder dass diese bevorzugt in Überlegungen des Bundesfinanz- oder Bundeswirtschaftsministers eingebunden wären.
Im 49. Jahr seines Bestehens zehrt der Sachverständigenrat (Foto: dpa) von den Resten eines schon stark verblassten Mythos, der in den Jahren des auslaufenden Wirtschaftswunders entstanden ist. Seine innovativen Konzepte zur Währungs- und Geldpolitik, zur Konjunktursteuerung, zur Lohn- und Beschäftigungspolitik hatten entscheidenden Einfluss auf die Wirtschaftspolitik der sechziger, siebziger und achtziger Jahre – einige prägen bis heute die deutsche Wirtschaftspolitik. Das Geldmengenziel der Bundesbank etwa, eine Erfindung des Rats, lebt in der Zwei-Säulen-Strategie der EZB weiter.
Für einen Paukenschlag sorgte schon 1964 sein erstes Sondergutachten, mit dem der Rat die Abkehr vom Festkurssystem von Bretton Woods und den Übergang zu flexiblen Wechselkursen empfahl, um dem „ständigen Inflationsimport zu entkommen,” wie sich der Ökonom Olaf Sievert erinnert, der dem Rat zwanzig Jahre angehörte. (Olaf Sievert, “Weise, Mahner und Propheten”, F.A.Z., 13. August 1988). Von einiger Sprengkraft war das anfangs von Gewerkschaften und Arbeitgebern begrüßte Konzept der produktivitätsorientierten Lohnpolitik: Es sah vor, die Reallöhne im Gleichschritt den Produktivitätsfortschritten anzupassen. Doch die Idylle war nicht von Dauer, schreibt Sievert. Die Gewerkschaften wollten nicht faire Teilhabe am Produktivitätszuwachs sondern Umverteilung. Der Sachverständigenrat ersann zur Befriedung auch die Konzertierte Aktion, später vollzog er spektakulär die Abkehr von der Nachfragesteuerung zu einer an der Stärkung des Angebots orientierten Politik. Dazu gehörte neben der stabilitätsorientierten Lohn- und Geldpolitik die Empfehlung einer antizyklischen Finanzpolitik und der Sanierung der Staatsfinanzen sowie die Forderung, die Tätigkeit des Staates zurückzunehmen zugunsten privater Investitionen.
Merklichen Einfluss hat der Sachverständigenrat zuletzt mit dem Gutachten 2002 gewonnen, in dem er “Zwanzig Punkten für Beschäftigung und Wachstum” auflistete und so letztlich die von Peter Hartz kurz zuvor entworfenen Arbeitsmarktreformen argumentativ stützte. Daraus hat die Regierung Schröder ihre mutige Agenda 2010 entwickelt, die mittlerweile erhebliche Beschäftigungswirkungen zeigt.
Geblieben scheint von der einstigen Größe des Rats augenblicklich nur noch das Ritual: Es schreibt vor, dass sich die fünf Mitglieder im Herbst in Klausur begeben und in dieser Zeit öffentlich schweigen. Anfang November präsentieren sie dann vor Kameras ein gewichtiges Werk, an dem heute eigentlich nur eine Zahl öffentlich interessiert: Die Wachstumsprognose für das kommende Jahr. Dies, obwohl besondere Treffsicherheit der Ratsprognosen nicht bekannt ist. Doch gehört die Zahl ins amtliche Prognose-Konzert zum Jahresende, in das auch die Wirtschaftsforschungsinstitute eingebunden sind: Die Bundesregierung schafft so ein abgestimmtes mehrheitsfähiges Meinungsbild, auf dessen Grundlage dann letzte Korrekturen am Haushaltsgesetz für das folgende Jahr vorgenommen werden.
Die Politikempfehlungen des Rats, auf die es ankommt, finden hingegen kaum noch Aufmerksamkeit. Das liegt nicht nur daran, dass der Rat der Regierung kaum mehr öffentlichkeitswirksam in die Parade fährt, denn die Herren und die Dame sind eher handzahm und sprechen meist politisch korrekt. In wichtigen Fragen ist der Professorenkreis zudem institutionell gespalten, weil ein Mitglied (Peter Bofinger) Gewerkschaftsinteressen vertritt, während der Vorsitzende Wolfgang Franz auf dem „Arbeitgeberticket” sitzt, was in Minderheitsvoten zum Ausdruck kommt. Zum Mindestlohn präsentierten die fünf Edel-Ökonomen vor drei Jahren allerdings gleich drei unterschiedliche Meinungen. Das veranlasste den inzwischen verstorbenen früheren Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff damals zur wütenden Forderung, den Rat abzuschaffen: “Fünf Sachverständige mit drei Meinungen – was soll die Regierung mit solcher Beratung anfangen? Wenn die sich so gebärden, dann brauchen wir sie nicht.”
Erstaunt vernahm man 2005 auch den plötzlichen Schwenk des Rats, die Sozialbeiträge mit Hilfe einer saftigen Mehrwertsteuererhöhung zu senken statt durch geringere Ausgaben. Eine Vorlage übrigens, die die große Koalition unter Angela Merkel unverzüglich genutzt hat, um sich nicht nur Reformen in der Sozialversicherung zu ersparen sondern auch mehr Geld in die öffentlichen Haushalte zu leiten.
Auch in der Euro-Debatte bietet der Rat keine Orientierung: Der im Elfenbeinturm fein ausgeklügelte Schuldentilgungspakt, den er im jüngsten Gutachten präsentiert hat, um für Fiskaldisziplin im Euroraum zu sorgen, ist eine Einladung an die Politik, die Schulden im Euroraum zu vergemeinschaften. Keine der Sicherungen, die der Rat in seinem Vorschlag eingebaut hat, um das zu verhindern, hat in der Praxis eine Chance.
Was nun? In seinem derzeitigen kraftlosen, unentschlossenen Zustand und mit seinen sprunghaften Empfehlungen ist der Sachverständigenrat nicht hilfreich. Die Marke Sachverständigenrat hat gelitten, sie ist aber noch zu retten. Denn Bedarf an ruhiger, fundierter Orientierung gibt es mehr denn je, seitdem sich die Bankenkrise zur Staatsschuldenkrise ausgewachsen hat. Es geht auch heute nicht darum, wer der schnellste und lauteste ist im Beraterkonzert – sondern um die Fähigkeit, einen mittelfristig verlässlichen Kompass zu bieten. Um noch einmal Sievert zu zitieren: “Wirtschaftspolitische Konzepte sind keine Einwegflaschen.” Der Rat solle ein “notorischer Herausforderer” der Wirtschaftspolitik sein, der durch die Kraft seiner Analyse das Vernünftige erleichtere und das Unvernünftige behindere.
Derzeit fehlt es aber sowohl an einem aktiven, entschlossenen Vorsitzenden wie an klaren Botschaften. Wolfgang Franz (bei der Übergabe des Jahresgutachtens, Foto: dpa) hat viele Verdienste, den Rat aber verwaltet er mittlerweile mehr, als dass er ihn gestaltet. Peter Bofinger ist in seiner Rolle als ewiger Keynesianer erstarrt. Vielleicht sollten beide jetzt mit Frau Weder die Mauro ausscheiden. Damit wäre der Weg frei für eine durchgreifende Erneuerung, an fähigen Köpfen mangelt es nicht. Zum fünfzigsten Jubiläum im kommenden Jahr sollte der Rat wieder eine Institution sein, die nicht länger nur von vergangener Größe zehrt. Man wünscht sich eine engagierte Ökonomentruppe, an deren Rat Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit nicht länger einfach vorbeikommen.
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