Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Die große Bevormundung durch die Verhaltensökonomen

Eine Warnung vor der paternalistischen Gefahr durch die Verhaltensökonomik. Von Philip Plickert

Eine Warnung vor der paternalistischen Gefahr.

Von Philip Plickert

Aufklärung, so hieß es einmal, ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Benutze den Verstand, handle selbständig und eigenverantwortlich. Du brauchst keinen Vormund, der für dich denkt und dich lenkt. So lautete die Grundaussage der Aufklärung, auf der auch die moderne Ökonomie seit Adam Smith aufbaut. Die Verhaltensökonomik, die seit einigen Jahren schwer in Mode gekommen ist, kehrt dieses Paradigma um. Sie hält den Menschen ihre Unmündigkeit vor. Mit Experimenten weist sie nach, wie irrational und widersprüchlich wir handeln.

Illu HoltgreveDaraus folgt eine paternalistische Agenda: Vater Staat solle die unmündigen Menschen – wie Kinder – vor den Folgen ihrer eigenen Unvernunft beschützen. Er soll sie sanft lenken, (be-)steuern und ihr Glück mehren. Die Verhaltensökonomik ist aber, so warnt der französische Ökonom Gilles Saint-Paul in seinem Buch “Die Tyrannei des Nutzens”, eine zunehmende Gefahr für die Freiheit geworden. Ins Extrem gedacht, könnte sie uns in eine von Wissenschaftlern geplante “Brave New World” des verordneten Glücks führen. “Aber nein!”, rufen die Verhaltensökonomen. “Das ist nicht unsere Absicht.” Mag sein, sagt Saint-Paul. Aber die Verhaltensökonomik ist eben eine schiefe Ebene, auf der man leicht abrutschen kann.

Die Ökonomen seit der Aufklärung gingen davon aus, dass der Mensch als vernunftbegabtes Wesen grundsätzlich für sich selbst sorgen kann und nach bestem Wissen seine Geschäfte treibe. Solange ein Handel freiwillig zustande kommt, müsse es beiden Parteien nutzen, andernfalls hätten sie ihn nicht abgeschlossen. Staatliche Eingriffe in die Freiheit des Einzelnen seien nur dann legitim, wenn eine Schädigung von Dritten verhindert werde, legte die von John Stuart Mill formulierte liberale Philosophie fest. Ansonsten solle der Staat sich heraushalten.

Zum Fundament der modernen Ökonomie gehört die Annahme der “offenbarten Präferenzen”: Durch seine Handlungen offenbart der Mensch, was seine Wünsche und Bedürfnisse sind. “Homo oeconomicus” agiert strikt rational. Er nutzt die verfügbaren Informationen, wägt ab und wählt aus der komplexen Fülle der Möglichkeiten jene aus, die seinen (subjektiven) Nutzen maximieren.

“Stimmt ja gar nicht!”, rufen da die Verhaltensökonomen. Tatsächlich ist die Annahme der “revealed preferences” eine empirisch unbewiesene These, wie auch Saint-Paul zugibt. Mittels vieler Experimente können Verhaltensökonomen und Psychologen belegen, dass Menschen aus Fleisch und Blut oftmals keineswegs ihren Nutzen maximieren. Oftmals bereuen wir schon nach kurzer Zeit unser Tun. Und gegen die These des “Homo oeconomicus” spricht auch, dass sich viele Menschen gute Vorsätze ausdenken und diese rational begründen, sie aber bald wieder brechen.

Schon in einfachen Entscheidungssituationen machen wir Menschen objektiv und systematisch “Fehler”. Wir leiden unter kognitiven Dissonanzen, lassen uns von irrelevanten Informationen blenden und können nicht mit Wahrscheinlichkeiten umgehen. Wir sind zu kurzfristig orientiert, sorgen zu wenig fürs Alter vor, vernachlässigen die Konsequenzen unseres Handelns und sind bei Geschäften von Emotionen getrieben. Instinkte triumphieren über den Verstand. Das gilt in der Aktienbörse, wo Gier oder Verlustängste herrschen, ebenso wie im Supermarkt oder im Restaurant.

Was tun? Verhaltensökonomen wie Richard Thaler und Cass R. Sunstein wollen die Menschen durch staatliche Schubser (“Nudge”) in die richtige Richtung lenken. Durch cleveres Sozialdesign können die Bürger zum Beispiel dazu gebracht werden, mehr fürs Alter zu sparen: Jeder Arbeitnehmer, der nicht widerspricht, bekommt eine zusätzliche Rentenversicherung verpasst. Auch die Quote der Organspender kann drastisch erhöht werden, wenn die Frage nach der Teilnahme umgedreht wird: Man muss explizit seine Verweigerung kundtun, nicht die Bereitschaft zur Organspende. Dabei wird ein allgemeiner Konsens unterstellt, abweichendes Verhalten fällt unter Rechtfertigungsdruck.

Thaler und Sunstein sind die Vorreiter eines sanften Paternalismus, der nur das Beste für die Menschen und die Gesellschaft will. Verhaltensökonomen verweisen auf reale Probleme wie die grassierende Fettleibigkeit in Amerika, die zu explodierenden Kosten im Gesundheitssystem führt. Erst diese Woche forderten die Vereinten Nationen höhere Steuern auf Fette und Zucker, um die Nachfrage zu drosseln. Auch die hohen Abgaben auf Alkohol und Zigaretten werden damit begründet, dass dadurch negative externe Effekte des Konsums aufgefangen werden. Das kann man noch sanften Paternalismus nennen, denn durch “Sündensteuern” wird unerwünschter Konsum zwar verteuert, aber nicht verboten.

Weiter gehen manche Glücksforscher, die den Menschen insgesamt ein verfehltes Streben nach materiellem Reichtum unterstellen. Ein protziges Auto etwa stiftet seinem Besitzer keinen Zusatznutzen, wenn der Nachbar ein ebenso protziges Auto hat. Das allgemeine Streben nach Statuskonsumgütern führt sich selbst ad absurdum. Nicht Wirtschaftswachstum und Geld machten die Leute glücklich, sondern Zeit mit Freunden, der Familie und soziale Sicherheit, ergeben Umfragen. Und dennoch arbeiten die Leute viel und machen Überstunden, um viel Geld zu verdienen. Der Glücksforscher Richard Layard hat daraus das Plädoyer abgeleitet, dass sehr hohe Grenzsteuersätze den Menschen zu ihrem Glück verhelfen: weniger Arbeit, mehr Freizeit.

Sobald die Annahme der “offenbarten Präferenzen” wegbricht, ist die Türe offen für weitreichende Interventionen, mehr Steuern und sanften bis harten Paternalismus. Die Verhaltensökonomik ist für Politiker attraktiv, denn sie legt nahe, dass der Mensch nicht weiß, was er wirklich will. Er braucht einen Sozialvormund. Der Staat, beraten von Experten, schiebt die Menschen in die Richtung, in die sie gingen, wenn sie bei klarem Verstand wären. Schon die frühen Wohlfahrtsstaaten hatten paternalistische Züge. Die Armen sollten nicht nur durchgefüttert, sondern auch moralisch gebessert und erzogen werden. Das deklarierte Ziel war aber immer noch die Mündigkeit. Die Verhaltensökonomik kann nun vermeintlich zeigen, dass dieses Ziel unerreichbar ist. Ein toller Fortschritt.

Literatur: Gilles Saint-Paul: The Tyranny of Utility, Princeton University Press 2011.

Der Beitrag ist der “Sonntagsökonom” der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 11. März. Illustration von Alfons Holtgreve.

Vor zwei Monaten fand in Frankfurt die Tagung “Ökonomie neu Denken” statt. Der prominente Verhaltensökonom Armin Falk zeigte sich dabei als “sanfter” Paternalist mit starkem Hang zu Verboten.

 

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