Der amerikanische Staat will seinen Bürgern den Alkoholgenuss abgewöhnen. Ohne Erfolg.
Von Patrick Welter
Zu den dunklen Seiten in der amerikanischen Geschichte der Freiheit gehört die Prohibition. 1919 erzwangen puritanische Kräfte in einem – wie es hieß – “noblen Experiment” – bundesweit das Verbot des Verkaufs, der Herstellung und des Transports von Alkohol. Erste Bemühungen darum gab es schon Jahrzehnte zuvor. In den 1850er Jahren etwa hatte schon Maine zeitweise den Verkauf und die Produktion von Alkohol verboten. Damit das Verbot 1919 auch Gewicht hatte, wurde es gleich in der Verfassung verankert. Genutzt hat das wenig, die Prohibition ließ den Schwarzmarkt erblühen und die Korruption unter Polizisten und Politikern. Erst 1933 wurde sie durch einen weiteren Verfassungszusatz aufgehoben.
Ein bisschen Prohibition gibt es in den Vereinigten Staaten auch heute noch. Viele Bundesstaaten verbieten den Alkoholgenuss in der Öffentlichkeit. Und mindestens 33 der 50 Staaten haben den Verkauf von Spirituosen am Sonntag beschränkt. Der Wunsch, wie ein wohlmeinender Familienvater die Amerikaner zum Beispiel vor dem Alkohol zu schützen, ist demokratisch gewählten Politikern eigen. Dahinter verbirgt sich das Misstrauen, dass der mündige Bürger seine Trinkgewohnheiten selbst in den Griff bekomme. Die amerikanische Bundesregierung setzt heute nicht auf staatliche Verbote, sondern verlegt sich auf kluge Ratschläge. Das steuerfinanzierte Nationale Institut für Alkoholmissbrauch und Alkoholismus empfiehlt den Amerikanern, wenig oder keinen Alkohol im Haushalt vorrätig zu halten, wenn das Trinken zu Hause ein Problem darstelle.
Aus ökonomischer Sicht rät die Regierung damit dem Bürger zu einer Selbstbindung. So wie Odysseus sich an den Mast seines Schiffes binden ließ, um dem Gesang der Sirenen nicht zu erliegen und vom Kurs abzuweichen, so sollen die trinkenden Amerikaner erst gar nicht in die Versuchung kommen, zu Hause zu viel Alkohol zu sich zu nehmen. Ökonomen empfehlen solche Selbstbindungen, um der Falle der Zeitinkonsistenz zu entgehen. Ein schönes Beispiel für Zeitinkonsistenz ist die Investitionspolitik. Eine Regierung könnte versprechen, Investitionen nicht zu besteuern, damit mehr Fabriken und Arbeitsplätze entstehen. Sind die Werkshallen aber erst mal gebaut, verspüren Politiker nicht selten den Anreiz, doch zuzulangen und die Eigentümer zur Kasse zu bitten. Eine glaubhafte Investitionspolitik kann so nicht zustande kommen. Um dieser Falle der Zeitinkonsistenz zu entgehen und dem schädlichen Anreiz zu entsagen, wäre es besser, wenn die Regierungen ihren Spielraum begrenzen und Steuern auf Investitionen gleich gänzlich verbieten.
Ähnliches empfiehlt die amerikanische Bundesregierung den Alkoholkonsumenten. Wer der Trinksucht zu Hause nicht entsagen kann, der solle doch eben gar keinen oder nur wenig Alkohol bevorraten. Im Prinzip könnte eine solche Selbstbindung verhindern oder es zumindest erschweren, dass der trinkende Amerikaner schwach wird und trotz aller guten Vorsätze zu Hause eine Flasche öffnet. Aber hören die Amerikaner auf ihre Regierung?
Die drei Ökonomen Douglas Bernheim, Jonathan Meer und Neva Novarro sind dieser Frage nachgegangen und nutzen dafür eine pfiffige Analyse-Idee. Als Versuchsfeld dienen ihnen die Beschränkungen des sonntäglichen Verkaufs von Spirituosen in den Bundesstaaten. Manche der Beschränkungen richten sich auf den Genuss von Spirituosen in Kneipen und Bars, andere auf den Verkauf in Geschäften. Anhand dieses Unterschieds lässt sich prüfen, ob Amerikaner in der Falle der Zeitinkonsistenz gefangen sind und ob sie versuchen, sich durch Selbstbindungen vor zu viel Alkoholgenuss zu schützen. Wie das?
Generell sollte man vermuten, dass der sonntägliche Spirituosenkonsum sinkt, wenn der Verkauf in Bars oder Restaurants nur für wenige Stunden zulässig ist. Beim Verkauf in Geschäften muss das indes nicht so sein: Zwar könnten die Amerikaner die begrenzten Verkaufszeiten nutzen, um bewusst weniger Alkohol zu trinken. Das wäre eine Selbstbindung mit staatlicher Unterstützung. In diesem Fall müsste der Alkoholkonsum sinken, wenn die Verkaufszeiten in den Geschäften am Sonntag kürzer werden. Binden die Amerikaner sich aber nicht und kaufen ihre Wochenendration schon am Samstag, dann dürften unterschiedlich lange Verkaufszeiten in Geschäften am Sonntag keinen Einfluss auf den Alkoholkonsum haben. So weit die Theorie.
Um diese Thesen empirisch zu untermauern, haben die drei Ökonomen in mühevoller Kleinarbeit zusammengetragen, dass 33 Bundesstaaten zwischen 1970 und 2007 die Gesetze zum sonntäglichen Verkauf von Spirituosen insgesamt 78 Mal geändert haben. Auffällig ist dabei zunächst, dass nur in zwei Fällen die Verkaufszeiten kürzer wurden. In allen anderen Fällen wurden sie ausgeweitet. Die paternalistische Fürsorge der Regierungen stößt offensichtlich an ihre Grenzen, wenn es darum geht, mit längeren Verkaufszeiten mehr Steuereinnahmen zu generieren.
Wie erwartet, belegt die Studie, dass mit der Ausweitung der sonntäglichen Alkohol-Verkaufszeiten in Bars und Restaurants der Konsum von Spirituosen steigt. Längere Verkaufszeiten in Geschäften am Sonntag aber haben keinen Einfluss auf die Höhe des Alkoholkonsums. Im Umkehrschluss heißt das: Die Amerikaner tappen nicht in die Falle der Zeitinkonsistenz, und sie folgen auch nicht der politischen Empfehlung zur Selbstbindung. Offensichtlich sorgen sie durch Käufe unter der Woche vor, dass ihnen auch am Sonntag die Spirituosen nicht ausgehen – unabhängig von den Versuchen ihrer Regierung und Volksvertreter, ihnen den Alkoholgenuss am Sonntag zu verderben.
Die drei Ökonomen sprechen von rationaler Voraussicht der Konsumenten und den niedrigen Kosten der Vorratshaltung. Man kann auch sagen, dass die Bürger durchaus effizient wissen, wie sie dem staatlichen Paternalismus entgehen können. Daran scheiterte auch die Prohibition im vergangenen Jahrhundert.
Douglas Bernheim, Jonathan Meer, Neva Novarro: Do Consumers Exploit Precommitment Opportunities? Evidence für Natural Experiments Involving Liquor Consumption. National Bureau of Economic Research, Working Paper Nr. 17762, Januar 2012.
Der Beitrag erschien als Sonntagsökonom in der F.A.S. vom 6. Mai. Illustration von Alfons Holtgreve