Fazit – das Wirtschaftsblog

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Fördert Gleichheit die Demokratie?

Selten waren die Vermögen in Deutschland so gleich verteilt wie 1945. Das hatte sein Gutes. Der Sonntagsökonom von Werner Mussler

Selten waren die Vermögen in Deutschland so gleich verteilt wie 1945. Das hatte sein Gutes.

Von Werner Mussler

Der große Soziologe Max Weber behauptete vor mehr als hundert Jahren, die Demokratie sei nur unter den Bedingungen des industriellen Kapitalismus zu verwirklichen. Der Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft, Walter Eucken, formulierte die Idee der Interdependenz der Ordnungen etwas vager: Sie läuft darauf hinaus, dass wirtschaftliche und politische Freiheit einander bedingen. Eine dritte, noch etwas andere Hypothese zum Einfluss ökonomischer Größen auf das politische System steuerte 1959 der amerikanische Soziologe Seymour Lipset bei. Sie läuft darauf hinaus, dass die Chancen eines Landes, zu einer Demokratie zu werden und als solche stabil zu bleiben, umso größer sind, je höher der wirtschaftliche Wohlstand in diesem Land ist.

Illustration: Alfons HoltgreveDie Lipset-Hypothese mag intuitiv einleuchten, sehr griffig ist sie nicht. Denn die historischen, kulturellen und institutionellen Umstände, unter denen sich ein Staatswesen zur Demokratie wandelt (und als solche Bestand hat), sind zu unterschiedlich, als dass sie sich auf die Einflussgröße “wirtschaftliche Entwicklung” reduzieren ließen. Ob ökonomische Faktoren Einfluss auf die Entwicklung des politischen Systems haben könnten, lässt sich wohl am ehesten durch einen historischen Vergleich politischer Ereignisse in ein und demselben Land herausfinden, in dem die kulturellen und institutionellen Rahmenbedingungen ansonsten weitgehend unverändert sind.

Die St. Galler Ökonomen Florian Jung und Uwe Sunde tun dies in einer Analyse dreier historischer Brüche in der jüngeren deutschen Geschichte, die anscheinend ähnliche ökonomische Folgen hatten, sich auf das Regierungssystem aber ganz unterschiedlich ausgewirkt haben: die Gründung des Deutschen Reiches 1871, das Entstehen der Weimarer Republik 1918/19 und die Gründung der Bundesrepublik Deutschland nach dem 2. Weltkrieg. Jedem Ereignis ging ein Krieg voraus, jedesmal hatte sich die vorherige Ordnung aufgelöst, musste sich ein neues politisches System herausbilden. Warum wurde Deutschland erst nach 1945 zur stabilen Demokratie, nicht schon 1871 oder 1918?

Eine simple ökonomische Antwort gibt es nicht: Laut Jung und Sunde lag das Pro-Kopf-Einkommen zu allen drei Zeitpunkten auf ähnlichem Niveau. Die beiden Ökonomen sehen aber eine andere ökonomische Erklärung. Ihr Argument ist ein verteilungstheoretisches. Demokratie ist in ihrem Verständnis ein Verfahren zur Lösung von Verteilungskonflikten jeder Art. Dieses funktioniert aber nur, wenn die Ungleichverteilung in einer Gesellschaft überschaubar ist. Anders formuliert: Demokratie setzt voraus, dass Einkommen und Vermögen nicht allzu ungleich verteilt sind.

In dieser Logik verwundert es nicht, dass das Deutsche Reich nach 1871 keine Demokratie, sondern ein Ständestaat war. Vor allem die landwirtschaftliche Wirtschaftsstruktur bewirkte eine extreme Ungleichverteilung. Die wirtschaftliche und politische Elite hatte Interesse an der Verteidigung ihrer Pfründen – und gerade deshalb kein Interesse an Demokratie. Die Industrialisierung bis zum 1. Weltkrieg verringerte die Ungleichheit. Das führte nach Jung und Sunde dazu, dass Deutschland in die Weimarer Republik stolperte. Dass sich diese nicht zu einem stabilen demokratischen Staatswesen entwickelte, begründen Jung und Sunde mit dem kaum gebrochenen Einfluss der alten Eliten, die die Demokratie vor allem aus eigenen ökonomischen Interessen ablehnten.

Die Situation nach dem 2. Weltkrieg war dann eine komplett andere: Der Krieg hatte nicht nur große Vermögenswerte zerstört, er hatte – vor allem aufgrund der Gebietsverluste im Osten – die alten Junkereliten um ihre ökonomische Vormachtstellung gebracht. Im zerstörten Deutschland hatten alle gleich wenig – laut Jung und Sunde war das die Voraussetzung dafür, ein auf Gleichberechtigung und Freiheit basierendes politisches System aufzubauen.

Ökonomische Gleichheit (oder der Mangel an Ungleichheit) ist also die Voraussetzung für Demokratie? Diesem Ergebnis liegt die ökonomistische Hypothese zugrunde, die Demokratie lasse sich ausschließlich als Verfahren zur Regelung von (ökonomisch begründeten) Verteilungskonflikten modellieren. Dieser Hypothese wird nicht jeder folgen.

Im Übrigen: Erklären kann die Verteilungsthese das Entstehen einer Demokratie immer nur für den Fall, dass es zuvor zu einer plötzlichen, schockartigen Einkommensnivellierung (in der Regel durch einen Krieg) gekommen ist. Denkbar ist aber auch eine komplett gegenteilige verteilungstheoretische Erklärung: Mindestens so gut vorstellbar ist, dass große Ungleichverteilung den Auslöser für revolutionäre Entwicklungen bildet, die in ein demokratisches System münden. Die Französische Revolution wäre dafür genauso ein Beispiel wie die Arabellion der vergangenen anderthalb Jahre.

Ob das Beispiel aus der jüngeren deutschen Geschichte so gut gewählt ist, steht auch aus einem anderen Grund in Frage. Historiker haben für die von Jung und Sunde geschilderte Entwicklung auch andere, vermutlich bessere Erklärungen. Die vielleicht wichtigste lautet: Die Demokratie ist in Deutschland nach 1945 gar nicht “entstanden”. Sie wurde den Deutschen vielmehr von den Alliierten verordnet. Und das war wahrscheinlich nötig. Denn die wichtigste Voraussetzung für ein demokratisches Staatswesen ist, dass seine Bürger demokratisch gesinnt sind. An dieser Gesinnung hatten die Besatzungsmächte wohl nicht umsonst ihre Zweifel.

Florian Jung, Uwe Sunde: Inequality, Development, and the Stability of Democracy – Lipset and Three Critical Junctures in German History, CEPR Working Paper 8406, Juni 2011.

Seymour M. Lipset: Some Social Requisites of Democracy: Economic Development and Political Legitimacy, American Political Science Review 53, 1959, S. 69-105.

Der Text ist der “Sonntagsökonom” aus der F.A.S. vom 20. Mai. Die Illustration stammt von Alfons Holtgreve.

 

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