Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Ökonomen im Gespräch (3): Carl Christian von Weizsäcker über den Nutzen von Staatsschulden für die schwäbische Hausfrau, die Logik von Nullrenditen und die Bedeutung der Kapitaltheorie

Staatsverschuldung ist kein Übel, sondern eine zwingende Notwendigkeit, wenn die Menschen sorgenfrei für ihr Alter vorsorgen wollen. Diese provozierende...

Carl Christian von Weizsäcker (Foto: privat)Staatsverschuldung ist kein Übel, sondern eine zwingende Notwendigkeit, wenn die Menschen sorgenfrei für ihr Alter vorsorgen wollen. Diese provozierende These stammt nicht von einem Außenseiter der Zunft, sondern von einem der namhaftesten deutschen Ökonomen. Carl Christian von Weizsäcker hat unter anderem am Massachusetts Institute of Technology (MIT) bei den späteren Nobelpreisträgern Paul Samuelson und Robert Solow studiert. Seinen Ruf verdankt er nicht zuletzt Arbeiten zur Kapitaltheorie, eines sehr komplizierten Teilgebiets der ökonomischen Theorie. Er war Professor am MIT sowie an  Hochschulen in der Schweiz und in Deutschland, Vorsitzender der Monopolkomission und Leiter des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität Köln. Seit einigen Jahren ist er Senior Research Fellow am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn. Er publiziert unter anderem über Wohlfahrts- und Wettbewerbsökonomik, über Umwelt- und Energiepolitik sowie über Grundfragen der Sozialen Marktwirtschaft. Die in diesem Gespräch erörterte kapitaltheoretische Begründung der Staatsverschuldung hat Carl Christian von Weizsäcker mehrfach ausführlich (hier und hier und hier und hier), darunter in der F.A.Z., behandelt.

 

Herr von Weizsäcker, die Renditen von Staatsanleihen aus Ländern wie Deutschland, der Schweiz, aus Skandinavien und den Vereinigten Staaten sind nahe Null. Viele Marktteilnehmer sehen darin den Ausdruck einer Spekulationsblase. Sie sehen darin eine ökonomisch logische Entwicklung. Inwiefern?

Wir haben, global betrachtet, ein hohes Angebot an Sparkapital von natürlichen Personen und von Unternehmen, die Gewinne einbehalten. Dem Sparkapital stehen als Gegenposten die privaten Investitionen und die Staatsschulden entgegen. Die privaten Investitionen sind seit Jahren nicht ausreichend, um das Sparkapital aufzunehmen. Die schwache Konjunktur verstärkt diese Tendenz. Wir haben eine Unterauslastung der Kapazitäten, weil die Spartätigkeit so hoch ist und es an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage fehlt, um die Kapazitäten auszulasten.

Wenn es in den Industrienationen keine ausreichende Investitionsnachfrage gibt, warum wandert das Sparkapital dann nicht in die Schwellen- und Entwicklungsländer ab, in denen fraglos ein hoher Investitionsbedarf existiert?

Die Schwellenländer exportieren im Saldo Kapital. Daher sind die Schwellenländer als Outlet für unsere Ersparnisse nicht verfügbar. Das Musterbeispiel ist natürlich China mit seinem enormen Leistungsbilanzüberschuss, der von einem entsprechenden Kapitalexport begleitet wird, der überwiegend in amerikanischen Staatsanleihen angelegt wird. In die Dritte Welt kann man nur tröpfchenweise Kapital exportieren, weil die politischen Zustände in diesen Ländern es sehr unsicher machen, ob man dort eine Rendite erwirtschaften kann. Daher wird dort kaum investiert.

Sie haben in einem Vortrag auf die Situation in Afrika verwiesen: Dort gäbe es genug Wasser, aber kaum eine Wasserwirtschaft, um die Trinkwasserversorgung sicher zu stellen.

Der unternehmerische Erfolg eines Wasserversorgers hängt sehr von der Regulierung ab. Da es in vielen Ländern Afrikas Inflation gibt, besitzt die Politik dort Anreize, die Wasserpreise künstlich niedrig zu halten. Wer einmal investiert hat, ist der Gefangene der Regulierung des Gastlandes. Der Druck der Bevölkerung auf die Regierung des Gastlandes, die Wasserpreise niedrig zu halten, ist in der Regel sehr hoch. In Verbindung mit der durch die Inflation bedingten Abwertung der heimischen Währung lohnt es sich für ein ausländisches Unternehmen nicht, in Afrika in die Wasserversorgung zu investieren.

Inwieweit ist diese Denkweise statisch? Wenn man beispielsweise das Buch “Why Nations fail” von Acemoglu/Robinson liest und mit den Autoren hofft, dass die Welt in institutionenökonomischer Hinsicht ein sicherer Ort werden könnte, erscheint eine Umleitung der Kapitalströme in die Dritte Welt vorstellbar.

Rein theoretisch stimmt das. Aber institutioneller Wandel wie die Abschaffung von Korruption ist ein sehr langfristiger Prozess. Das sehen wir auch in Teilen Europas. Gleichzeitig gilt: Wenn sich in diesen Ländern der institutionelle Rahmen verbessert und Eigentum einigermaßen sicher ist, ein Entwicklungsland also zum Schwellenland wird, setzt auch dort eine höhere Spartätigkeit ein. Ostasien hat uns das gezeigt. Die Erfahrung lehrt, dass die meisten Länder durch Erfolge auf dem Weltmarkt von Entwicklungs- zu Schwellenländern wurden. Gerade Exporte erweisen sich als Lehrmeister für institutionelle Verbesserungen im Inland. Die chinesische Wirtschaft hat Marktdisziplin und die allmähliche Befreiung von Korruption auf dem Weltmarkt gelernt. In einem geschlossenen System kann man ein Geschäft machen, indem man seinen Partner besticht. In einem weltoffenen System muss man gute Ware anbieten. Wenn das Wachstum vom Export herrührt und daher ein Schwellenland mehr exportiert als importiert, eignet es sich nicht als Outlet für das Kapital der reichen Länder.

Kehren wir zurück zu den reichen Nationen, in denen viele Menschen für das Alter sparen wollen. In diesem Zusammenhang verwenden Sie den Begriff “Sparperiode”. Was haben wir darunter zu verstehen?

Die Sparperiode ist das Verhältnis zwischen der Höhe des Vermögens, das gespart wurde, zum jährlichen Konsum. Dieses Verhältnis hat die Dimension “Zeit”. Daher der Name “Sparperiode”. Wenn man für das Alter sparen will, lautet eine wichtige Frage: Wie lange wird der dritte Lebensabschnitt dauern, in dem man seine Ersparnisse konsumiert? Wenn wir die Gesundheitskosten mit einbeziehen, können wir näherungsweise davon ausgehen, dass ein Mensch im Alter ein vergleichbar hohes Konsumniveau behält wie in seiner aktiven Zeit. Die durchschnittliche Altersperiode beträgt in Deutschland wie in den meisten anderen reichen Ländern etwa 20 Jahre. Nach einer Daumenregel beläuft sich die “Sparperiode” etwa auf die Hälfte des abzusichernden Zeitraums. Das wären 10 Jahre. Rechnet man noch 2 Jahre hinzu, weil viele Menschen nicht nur Vermögen für den Konsum im Alter bilden, sondern auch, um ihren Nachkommen etwas zu vererben, gelangt man zu einer Sparperiode von mindestens 12 Jahren.

Gut, damit haben wir das aus der Ersparnis der privaten Haushalte stammende Kapitalangebot behandelt. Jetzt müssen wir die Frage klären, warum aus Ihrer Sicht die private Kapitalnachfrage für Investitionen nicht ausreicht, um das Kapitalangebot zu absorbieren.

Hier beziehe ich mich auf die österreichische Kapitaltheorie in der Tradition Eugen von Böhm-Bawerks und auf seine Theorie der Mehrergiebigkeit der Produktionsumwege. Je länger die Produktionsumwege sind, desto mehr Kapital erfordert die Güterproduktion. Ich meine aber, dass es für diese Mehrergiebigkeit der Produktionsumwege Grenzen gibt – und damit Grenzen für den Kapitalbedarf der produzierenden Unternehmen.

Um das für interessierte Laien, die sich nicht mit der Kapitaltheorie auskennen, etwas frei auszudrücken: Die Zahl rentabler langfristiger privater Investitionsmöglichkeiten ist begrenzt. Wie kann man das messen?

Hierzu können wir den sogenannten Kapitalkoeffizienten verwenden. Der Kapitalkoeffizient, das ist das Verhältnis von Realkapital zu jährlichem Konsum, ist in Deutschland seit Jahrzehnten nicht mehr gewachsen und hat eine Größenordnung von etwa 5 Jahren.

Kapitalangebot und private Kapitalnachfrage wären dann in einem Gleichgewicht, wenn wir für die Sparperiode und den Kapitalkoeffizienten identische Laufzeiten hätten. Das ist aber nicht der Fall: Die Sparperiode ist mit 12 Jahren deutlich länger als der Kapitalkoeffizient mit 5 Jahren. Können Sie diese Beschränkung der Investitionsmöglichkeiten anschaulich schildern?

Wir können das an den Immobilienblasen in Südeuropa nach der Einführung des Euro sehen. Das sind im Nachhinein Projekte mit massiven negativen Renditen gewesen. Weltweit besteht der größte Teil des Sachkapitals aus Immobilien; das aus produzierenden Anlagen bestehende Sachkapital ist viel geringer. Wenn Sie eine Immobilie, nehmen wir ein Bürohaus, haben, müssen Sie es instand halten. Die Instandhaltungskosten wachsen in etwa proportional mit der Fläche. Die Produktivität der vorgegebenen Arbeitskräfte, die in dem Bürohaus arbeiten, wird  bei der Vergrößerung des Bürohauses vielleicht zunehmen, aber mit abnehmender Rate, so dass sich ab einer bestimmten Größe die Instandhaltungskosten nicht mehr rentieren. Deswegen hat es keinen Sinn, immer mehr Gewerbeimmobilien zu bauen. Für den Wohnungsbau gilt dasselbe. Wir haben einen durchschnittlichen Wohnraum von 50 Quadratmeter pro Kopf in Deutschland. Wenn man auf 60 Quadratmeter ginge, stünden die Instandhaltungskosten vermutlich in keinem Verhältnis mehr zu dem Nutzen, die diese 10 zusätzlichen Quadratmeter dem Bewohner bringen.

Ihr Tübinger Kollege Joachim Starbatty hat in einem Beitrag in der F.A.Z. kürzlich die folgende These vertreten: Wenn man durch eine geeignete Wirtschaftspolitik mehr unternehmerische Dynamik im Sinne Schumpeters wecken könnte, würden diese innovativen Unternehmer zusätzliche Investitionsprojekte und damit eine zusätzliche Kapitalnachfrage entwickeln.

Das bestreite ich. Die erfolgreichsten innovativen Unternehmer unserer Zeit, man denke zum Beispiel an Microsoft, Amazon, Apple oder Google, finden wir in der IT-Branche. Diese Unternehmen könnte man etwas karikierend als Banken mit angeschlossenem IT-Geschäft bezeichnen. Diese Unternehmen verfügen über sehr viel Liquidität, weil sie gar nicht wissen, wo sie sinnvoll investieren können. Mehr “Schumpeter” führt heutzutage nicht zu mehr Kapitalbedarf. Immobilieninvestitionen, die hauptsächliche Form der Realkapitalbildung, sind nicht besonders “schumpeterianisch”.

Ihre Provokation aus der Sicht des Zeitgeistes lautet: Weil die private Kapitalnachfrage geringer ist als das Kapitalangebot, muss sich der Staat verschulden, um den Kapitalüberschuss aufzunehmen, damit die privaten Haushalte ihre Ersparnisse wenn auch vielleicht nicht verzinslich, aber doch wenigstens sicher anlegen können.

Es hat schon immer eine Art Vorsorge-Albtraum aus der Sicht des Sparers gegeben: Ist mein Vermögen, von dem ich im Alter leben will, überhaupt sicher?  Diese Rechnung geht nur auf, wenn es für die Kapitalanlage große und solide Schuldner gibt. Der größte und sicherste Schuldner ist der Staat, weil er durch die Quasi-Verpfändung künftiger Steuereinnahmen dem Gläubiger Sicherheit verspricht. Dadurch kann verhindert werden, dass sich eine negative Kapitalrendite einstellt.

Wolfgang Streeck, der Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln, hat kürzlich in seinen Adorno-Vorlesungen aus Ihren Überlegungen ein demokratiekritisches Argument abgeleitet. Aus seiner Sicht folgt daraus, dass sich der Staat verschulden muss, damit reiche Leute ihr Geld sicher anlegen können. Gleichzeitig stranguliert der Staat wegen des mit der Staatsverschuldung verbundenen Schuldendienstes und einer eventuellen Notwendigkeit von Austeritätspolitik die Möglichkeit der Finanzierung einer Daseinsvorsorge, die wir von einem modernen Staat erwarten. Ist an dieser “linken” Weizsäcker’schen Interpretation etwas dran?

Streeck verkürzt meine Analyse auf die expliziten Staatsschulden, also diejenigen, die im Kapitalmarkt eine Rolle spielen. Diese sind nur die Spitze des Eisbergs. Viel größer sind die impliziten Staatsschulden in der Form von Verpflichtungen zu künftigen Rentenzahlungen oder künftigen Krankenkassenzahlungen, die von den Menschen durch Betragszahlungen “angespart” worden sind, ohne dass der Staat einen entsprechenden Deckungsstock gebildet hätte. Auch die staatliche Garantie der Bankguthaben der Sparer ist eine implizite staatliche Eventualverbindlichkeit. Vieles mehr könnte genannt werden. Vorsorge ist ja im Sozialstaat nicht nur etwas für reiche Leute, sondern für jedermann. Meine These vom Überhang des Vorsorgemotivs über vernünftigerweise zu bildendes Realkapital beruht ganz wesentlich auf den Charakteristika des modernen Sozialstaats. Damit wird aber die Staatsverschuldung ein ganz wesentlicher Teil der sozialstaatlichen Daseinsvorsorge. Im Übrigen sind auch die expliziten Staatsschulden dann keine Belastung und kein Zwang zur Austeritätspolitik, wenn der Realzins, den der Staat auf seine Schulden bezahlt, Null ist.

Wie erklären Sie sich, dass Staatsschulden nicht nur in der allgemeinen Volksmeinung, sondern auch unter vielen Gelehrten in Verruf geraten sind?

In der Öffentlichkeit ist ein Vorverständnis verbreitet, wonach sich der Einzelne, abgesehen vom Hypothekarkredit für sein Eigenheim, nicht verschulden, sondern sparen soll. Das ist eine sehr vernünftige Einstellung, solange man nicht unternehmerisch tätig ist. Daraus wird aber der Schluss gezogen, dass sich auch der Staat, also die Gemeinschaft, nicht verschulden dürfe. Dieser Analogieschluss ist falsch.

So denkt die berühmte schwäbische Hausfrau. Aber denken Ökonomen auch so?

Im deutschsprachigen Raum herrscht unter Ökonomen – im angelsächsischen Raum ist das zum Teil anders – das sogenannte neoklassische Modell vor. Ein Beispiel ist das Barro/Ricardo-Theorem. Es besagt, dass der Staat durch Verschuldung die gesamtwirtschaftliche Nachfrage überhaupt nicht stimulieren könne, weil die Bürger in der Antizipation künftiger Steuerzahlungen in der Höhe der Staatsverschuldung zusätzliche Ersparnisse bilden. Dieses Theorem setzt voraus, dass der Zinssatz über der wirtschaftlichen Wachstumsrate liegt. Dieser Auffassung sind viele meiner Kollegen verhaftet. Wenn aber, wie ich annehme, der Zinssatz unter der Wachstumsrate liegt, gilt das Barro/Ricardo-Theorem nicht.

Mit der Position der Neoklassiker kommen wir zu den Einwänden gegen Ihre Theorie. Was stimmt an der Vorstellung der Neoklassiker, der Zinssatz liege über der Wachstumsrate, nicht?

Es gibt ein kluges neoklassisches Argument gegen die Annahme eines Zinssatzes von Null. Es zielt auf den Boden ab und besagt, bei einem Zinssatz von Null müsste der Wert des Bodens gegen unendlich streben. Dann gibt es das von mir geschilderte Anlageproblem nicht. So hat Martin Feldstein schon in den siebziger Jahren argumentiert; später hat Stefan Homburg diesen Gedanken weiter ausgearbeitet. Das Argument ist logisch völlig richtig, aber ich halte es aus empirischer Sicht nicht für durchschlagend, weil es immer die Gefahr der Expropriation gibt, und sei es durch Besteuerung. Im modernen Steuerstaat wird der Wert des Bodens daher nie gegen unendlich streben, selbst wenn er knapp sein sollte. Je höher der Bodenwert ist, umso höher ist die Verlockung für den Staat, den Boden zu besteuern.

Wie hoch liegt dieser Zinssatz, Sie rekurrieren in Ihren Arbeiten auf Knut Wicksells “natürlichen Zins”, in der Praxis?

Man kann diesen “natürlichen Zins” heute nicht messen. Es handelt sich um den hypothetischen Zinssatz, der sich aus dem Zusammentreffen von Kapitalangebot und privater Kapitalnachfrage bei hoher Beschäftigung einstellte – also ohne Staatsverschuldung. Da, wie ich oben abgeleitet habe, bei einem Zinssatz von Null eine riesige Lücke zwischen dem Kapitalangebot und der privaten Kapitalnachfrage herrscht, muss der “natürliche Zins” negativ sein.

Ein zweiter Einwand gegen Ihre Theorie lautet, dass die Kapitalmärkte nicht immer bereit sein mögen, alle Staatsanleihen zu kaufen, weil sie Angst haben, dass sich der Staat finanziell übernimmt.

Das ist zum einen eine Frage der Perzeption. Die britische Krone hatte am Ende der Napoleonischen Kriege eine Staatsschuld in Höhe von etwa 250 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, wie Historiker zurückgerechnet haben. Trotzdem hat man die Zahlungsfähigkeit der britischen Krone nicht in Frage gestellt. Heute hat Japan eine sehr hohe Schuldenquote. Zweitens ist das eine Frage institutioneller Vorkehrungen.

Denken Sie dabei an eine Schuldenbremse?

Die Schuldenbremse wurde von den Schweizern erfunden und von den Deutschen ins Grundgesetz übernommen. Die Schuldenbremse ist aus meiner Sicht kontraproduktiv, weil sie die Rolle der Staatsverschuldung beim Ausgleich von Kapitalangebot und Kapitalnachfrage gefährdet. Stattdessen braucht man eine andere Regel, die Vertrauen der Kapitalmärkte in die Solvenz des Staates schafft. Hier könnte man an sogenannte Covenants denken: Wenn ein Staat bestimmte Kennzahlen nicht erfüllt, muss er dem Gläubiger eine Zusatzprämie zahlen.

Mit Ihrer Befürwortung von Staatsverschuldung könnte man Sie für einen Keynesianer wie Paul Krugman halten. Das ist aber nicht der Fall, denn Sie argumentieren nicht keynesianisch?

Wenn ich das richtig sehe, hat Krugman keine kapitaltheoretische Fundierung für seine Ansichten. Diese kapitaltheoretische Fundierung stelle ich bereit. Ich betrachte mich auch deshalb nicht als reinen Keynesianer, weil dies zu dem Missverständnis führen könnte, ich akzeptierte keine Grenze für die Staatsverschuldung. Es gibt in meiner Theorie sehr wohl eine Grenze der Staatsverschuldung: Sie liegt dort, wo die Staatsverschuldung unter der Annahme hoher Beschäftigung die Lücke zwischen dem Kapitalangebot und der privaten Kapitalnachfrage bei einem Realzins von Null füllt.

Wie ist die Aufnahme bei Ihren Kollegen? 

Ich habe in Deutschland bei Kollegen wie Martin Hellwig und Hans-Werner Sinn, aber auch anderen, einen gewissen “Aha-Effekt” erreicht. In Amerika gibt es unter anderem positive Resonanz bei Kollegen am MIT in Boston. Es wäre sicher wünschenswert, wenn sich junge Ökonomen des Themas annähmen und darüber in Fachzeitschriften publizierten.

Inwieweit stellt Ihre Verwendung der Kapitaltheorie gerade für jüngere Kollegen eine Hürde dar, weil Kapitaltheorie, wie es scheint, an den Universitäten kaum mehr gelehrt wird?

Sie wird überhaupt nicht mehr gelehrt – und den Bologna-geschädigten Studenten von heute schon gar nicht. Das ist ein Problem, denn in der Wissenschaft gibt es auch den Prozess des Vergessens. Das gilt für die Kapitaltheorie, die in den sechziger und siebziger Jahre hoch im Kurs stand. Im Zusammenhang mit dem Siegeszug der Neoklassik haben sich viele Ökonomen für die dynamischen, stochastischen Allgemeinen Gleichgewichtsmodelle der Makroökonomie interessiert und darüber die Kapitaltheorie vernachlässigt. Sie ist den mathematischen Vereinfachungsstrategien bei der Konstruktion dieser Modelle zum Opfer gefallen.  Wie sich zeigt, hat man auf der Basis der modernen Makroökonomie aber nicht immer die besten wirtschaftspolitischen Vorschläge machen können. Jetzt befindet man sich in dem Dilemma, dass die modernen Ökonomen kein Modell haben, das auf die reale Wirtschaft passt. Ich schlage daher eine Rückbesinnung auf die Kapitaltheorie vor.

 Das Gespräch führten Gerald Braunberger und Rainer Hank.

 

UPDATE: In den Kommentaren hat Peter Bernholz, emeritierter Professor der Universität Basel, eine Kritik der Thesen Carl Christian von Weizsäckers veröffentlicht, auf die Herr von Weizsäcker eine Replik verfasst hat.

 

Bisher sind in der Reihe “Gespräche mit Ökonomen” erschienen:

1. Rüdiger Bachmann (RWTH Aachen) über DSGE-Modelle und die moderne Makroökonomik

2. Daron Acemoglu (MIT) über die Anwendung seiner Institutionenökonomik auf die Krise in Europa