Warum die Wirtschaftshistoriker viel über die Krise wissen. Sie dürfen sich aber nicht auf die Anwendung mathematischer Verfahren beschränken, sondern für unterschiedliche Methoden offen bleiben.
Von Rainer Hank
Das Reich Philipps II (1527 bis 1598), in dem bekanntlich die Sonne nie unterging, musste dreimal den Staatsbankrott anmelden: Dreimal stellte der König die Zahlungen an die Kredit gebenden Banken ein. Denn die Ausgaben für die vom König geführten Kriege waren völlig aus dem Ruder gelaufen und die erwarteten Silber-Lieferung aus Südamerika (die für die Staatseinnahmen viel wichtiger waren als die Steuern der spanischen Bürger) waren nicht eingetroffen. Dreimal kam es zu aufwendigen Umschuldungsverfahren mit den Gläubigern; aber dreimal gaben den Banken trotz der erfahrenen Pleite dem König wieder Geld (siehe Grafik; https://mauricio.econ.ubc.ca/pdfs/borrowerfromhell.pdf); nur wenige Geldgeber ließen sich abschrecken.
Der in Barcelona lehrende Wirtschaftshistoriker Hans-Joachim Voth, dem wir präzise Untersuchungen über die Fiskalpolitik Phillips II verdanken, scheut sich nicht, aus diesen Erkenntnissen Schlüsse für die heutige Euro- und Staatsschuldenkrise zu ziehen. Der wichtigste lautet: Keine Angst vor dem Schuldenschnitt. Denn Gläubiger haben oft nur ein kurzes Gedächtnis. Und die Strafen für den Schuldner sind tolerabel, sofern dessen Zukunftsaussichten einigermaßen positiv sind. Es stimmt also nicht die oft gehörte Faustregel, ein Schuldenschnitt sei auf jeden Fall zu vermeiden, weil die Pleitestaaten andernfalls nie wieder an den Kapitalmarkt zurück könnten (auch Argentinien hat rasch wieder Kredit bekommen).
Wer sich Voths Vortrag – die Tawney-Lecture 2011 der angesehenen Economic History -Society im Podcast anhört (https://www.ehs.org.uk/ehs/podcasts/tawney2011.asp), lernt nicht nur die Angst vor Staatsschuldenkrisen und Umschuldungen zu verlieren, sondern erhält zu-gleich eine Fülle von Material und Hypothesen zur Frage, warum sich im Jahrhunderte wäh-renden Kampf der Weltreiche zwischen Spanien und dem britischen Empire letztlich die Briten durchgesetzt haben. Eine der vielen überraschenden Antworten heißt: Weil England nicht das Glück hatte, auf Silbervorräte aus Kolonien zurück greifen zu können, musste das Land, früher als Spanien, ein gut funktionierendes Steuersystem aufbauen, das den Staat finanzierte. Voth nennt das „The poor man’s advantage”. Als die Bedeutung des Silbers als Währung nämlich zurück ging, war das britische Fiskal-Regime dem spanischen strukturell überlegen. Stimmt das, lässt sich noch eine weitere Pointe ziehen: Während die herrschende Meinung der Wirtschaftshistoriker (Douglas North, Daron Acemoglu) behauptet, gute Staaten bräuchten vor allem gute (Rechts)institutionen (https://faz-community.faz.net/blogs/fazit/archive/2012/06/15/oekonomen-im-gespraech-daron-acemoglu.aspx), ist nach Ansicht von Voth die „Governance” eines Staates mindestens so wichtig: dessen Fähigkeit zur effizienten und stabilen Finanzierung seiner Aufgaben. Und auch daraus folgt noch einmal eine Applikation auf die Gegenwart: Die aktuelle Krise könnte eine Chance zur Strukturreform von ineffizienten Steuersystemen werden, meint der Wirtschaftshistoriker.
Wenn es eine Wissenschaftlergruppe gibt, die von der Finanz- und Staatsschuldenkrise profitiert, dann sind es die Wirtschaftshistoriker. Und das völlig zu Recht. Sie erleben derzeit international eine Renaissance, während sie vorher ein Nischendasein am Rande der Fakultäten führten. Doch nachdem die Ökonomen (und die Öffentlichkeit) von der Krise überrascht wurden, weil „unknown unknowns” (Donald Rumsfeld) von keiner Theorie eingefangen worden waren und allenthalben große Ratlosigkeit sich ausbreitete, kam Rettung nicht etwa von neuer Mathematik oder den Modellen der Makroökonomen, sondern just von der Wirtschaftsgeschichte. Wer nicht mehr weiter weiß, lernen wir daraus, dreht sich am besten um und blickt zurück: Denn der Rückblick kann historische Muster identifizieren, mit dem sich der nicht verstandene, scheinbar einzigartige Krisenfall historisch kontextualisieren lässt. Und der Rückblick bringt verschüttete Gedanken und Erkenntnisse wieder ans Tageslicht der Gegenwart, welche längst auf dem Friedhof der Ideengeschichte begraben waren. Ideen- und Wirtschaftsgeschichte kommen heute wieder zu Ehren.
Paradebeispiel dieser Erkenntnisleistung der Wirtschaftsgeschichte in der aktuellen Krise ist natürlich Reinhart/Rogoff: This Time is Different (https://www.amazon.de/Dieses-Mal-ist-alles-anders/dp/3898795640). Darin analysieren die beiden Ökonomen viele Jahrhunderte Wirtschaftsgeschichte und stellen fest: Krisen sind nicht etwa der Ausnahme-, sondern der Normalfall im Kapitalismus. Sie gehören zum Kapitalismus wie ein Gewitter zum Sommer. Und sie verlaufen immer nach demselben Muster, auch wenn die Zeitgenossen jedes Mal meinen, just dieses Mal sei alles anders. Man hat Reinhart/Rogoff vorgeworfen, das sei keine Theorie, sondern „nur” die Präsentation historischer Datenmengen und Vergleiche. Wer so argumentiert, verkennt, dass das Erspüren von Mustern gerade der Witz dieser Wirtschaftsgeschichte ist in Zeiten, in denen die Theorie offenbar versagt hat oder aber keinen Beitrag mehr leistet zum intellektuellen Auftrag, die eigene Zeit in Gedanken zu erfassen. Wo Theorie enttäuscht, bietet die Rückschau die Alternative. Plötzlich rettet uns Clio, die Muse der Geschichte.
Es muss irgendwann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen sein, dass die Wirtschafts- und Ideengeschichte ins Hintertreffen geriet: den Ökonomen war sie nicht exakt genug, die Historiker beschäftigten sich lieber mit Sozialgeschichte. Agnar Sandmo erzählt in seine Geschichte der ökonomischen Ideen (https://press.princeton.edu/titles/9370.html) die nette Anekdote von jenem jungen Ökonomen, der bei einem der ersten Gespräche von seinen neuen Fakultätskollegen gefragt wurde, auf welche historische Periode er spezialisiert sei. Frech gibt er zur Antwort: „Auf die Zukunft, Herr Kollege.” Da deutete sich der Umschwung eines Denkens an, wonach Ökonomen sich mit dem Kommenden (Konjunktur- und Wachstumsprognosen), aber nicht mit dem Zurückliegenden beschäftigen sollen. Denn in der Vergangenheit stößt man, nach einem wahlweise Keynes oder anderen Denkern zugeschriebenen Bonmot auf nichts als „the wrong opinions of dead men”. Prognostische Prophetie dagegen warf für Ökonomen stets lukrative staatliche oder nicht staatliche Beratungsmandate ab. In der Finanzkrise hat die Prognosefähigkeit der Ökonomie versagt. Seit der Finanzkrise aber sind Ideen toter Herren (wenig Damen) wieder gefragt, einerlei, ob es sich um Keynes, Minsky, Polany, die Freiburger oder die Österreicher handelt. Bei allen von ihnen lassen sich Anknüpfungspunkte finden, die zum Verständnis der Krise hilfreich sind.
Neben Reinhart/Rogoff sind viele anderen Wirtschaftshistoriker zu nennen, die zum Krisenverständnis beitragen. Der schon erwähnte Daron Acemoglu hat darüber geforscht, warum Staaten historisch scheitern und er zieht daraus Konsequenzen für einen nötigen institutionellen Wandel in Europa. Barry Eichengreen wird nicht müde zu belegen, dass die Finanzkrise ihr lokal begrenztes Vorbild in der Asienkrise in den späten neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts fand. Und er leitet daraus Überlegungen ab für ein neues Weltwährungssystem (https://www.worldscientific.com/worldscibooks/10.1142/8339)
Wirtschaftsgeschichte kann nicht nur helfen zum Verständnis der Krise, sie hilft auch, bei der Überwindung der Krise keine Fehler zu machen. So zeigt Michael Bordo, dass Währungs- und Fiskalunionen nur da funktionieren, wo strikt eine No-Bailout-Regel eingehalten wird (Schweiz, USA). Dagegen macht sich die Eurozone gerade auf den Weg zu einer Fiskalunion mit Bailout. Das wird kaum funktionieren. Auch deutsche Wirtschaftshistoriker melden sich zu Wort. Neben dem schon erwähnten Hans-Joachim Voth muss Werner Plumpe genannt werden, dessen nicht nur in ihrer Kürze brillante Geschichte der Wirtschaftskrisen (https://www.amazon.de/Wirtschaftskrisen-Geschichte-Gegenwart-Werner-Plumpe/dp/3406606814) sowohl Marx` These von der Krisenanfälligkeit des Kapitalismus wie auch Nietzsches Vermutung von der Vergesslichkeit der menschlichen Gattung bestätigt. Jetzt wissen wir wieder: Wer den Kapitalismus lieber ohne Krise haben möchte, muss wie in Mandevilles Bienenfabel wieder zurück auf die Bäume unserer Vorfahren.
Interessanterweise hat die Wirtschaftsgeschichte in den vergangenen Dekaden selbst einige Purzelbäume hinter sich. Zumindest im angelsächsischen Raum gilt seit einigen Jahrzehnten als herrschende Lehre die „New Economic History”, auch Cliometrics, genannt: Dahinter verbirgt sich das Eindringen quantitativer Methoden in die Geschichtswissenschaft, was nichts anderes ist als die Anerkennung der Historiker des (damaligen) Paradigmas der theoretischen Ökonomik. Oder salopp gesagt: Cliometrics bedeutet, der Erzähler muss auch zählen können. Das hat der Seriosität des Faches genützt und die Historie aus der Beliebigkeit der zum Fabulieren neigenden interpretierenden Hermeneutik befreit, die meinte auf ein Wahrheitskriterium verzichten zu können, weil sie auf die Plausibilität der Deutung vertraute. Seither machen die Wirtschaftshistoriker sich anheischig, zum Beispiel den Wachstumseinbruch nach der Eroberung des römischen Reiches durch die Germanen mehr oder weniger exakt zu beziffern (etwa anhand der durch Radiocarbonmethode festgestellten zurückgehenden Umweltverschmutzung als Maß nachlassender Wirtschaftstätigkeit). Herausragende Arbeiten der Cliometrics sind die Forschungen des Amerikaners Robert Fogel (der 1993 zusammen mit Douglas North den Wirtschaftsnobelpreis erhielt), der anhand von statistischen Daten nachzuweisen suchte, dass Sklaverei für die Sklavenhalter produktiv war, um ihren Profit zu stei-gern und dass es deshalb auch „vernünftig” war, sie nicht vollkommen auszubeuten, hätte man sich dadurch doch die Quelle des wirtschaftlichen Erfolgs untergraben.
Inzwischen hat die Finanzkrise allerdings den Theorieanspruch des ökonomischen Imperialismus erschüttert und damit auch die fraglose Dominanz der Cliometrics. Erste Konvertiten melden sich zu Wort: besonders eindrucksvoll argumentiert ein in Cambridge ausgebildeter junger Wirtschaftshistoriker von der Universität Bari, Francesco Boldizzoni (https://press.princeton.edu/titles/9476.html). Boldizzoni wirbt für einen „dritten Weg” der Wirtschaftsgeschichte jenseits von Cliometrics (und ihren zuweilen abstrusen Übertreibungen der quantitativen Methode) und einfühlender Hermeneutik (und ihrer zuweilen auf schierer Plausibilität beruhenden Interpretation). Er stellt dafür ein Fünf-Punkte-Programm auf (Seite 150ff), das die Wirtschaftsgeschichte einordnet in die allgemeine Sozial- und Kulturwissenschaft:
1. Vorrang haben die Primärquellen breitester Art, die nicht schon im Hinblick auf das gewünschte Ergebnis ausgewählt werden. Wenn Fakten erst konform gemacht werden müssen, um zu den Modellen zu passen, dann stimmt etwas nicht.
2. Der Wirtschaftshistoriker darf die soziale, kulturelle, politische und institutionelle Geschichte nicht vernachlässigen.
3. Wirtschaftsgeschichte darf sich nicht nur auf ökonomische Theorie beziehen. Sie muss sich auch auf Wirtschaftssoziologie und Wirtschaftsanthropologie (David Graeber lässt grüßen) einlassen (Nebenbei: Das Max Planck Institut für Sozialforschung in Köln, das auf Wirtschaftssoziologie und politische Ökonomie spezialisiert ist, besetzt gerade eine dritte Direktorenstelle mit einem Wirtschaftshistoriker).
4. Regessionsanalyse ist selbst noch keine Wissenschaft und erst recht kein Ersatz für Interpretation.
5. Theorie kann sich nicht nur in Deduktion erschöpfen. „Kreative” Theorie bezieht ihre analytische Kraft aus der qualitativen Analyse des Einzelfalls.
(Gerald Braunberger danke ich für konstruktive Kritik)
Im Übrigen: Im September erscheint die erfolgreiche wirtschaftshistorische Serie „Wie wir reich wurden” der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung als „Kleine Geschichte des Ka-pitalismus” im Konrad Theiss Verlag, Stuttgart: https://www.amazon.de/Wie-wir-reich-wurden-Kapitalismus/dp/3806227047.
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Lieber Herr Braunberger!
Die...
Lieber Herr Braunberger!
Die Forschungsprojekte von Karl Heinrich Kaufhold zur Preisgeschichte sowie von Jürgen Schneider und Markus Denzel zu Wechselkursen der Neuzeit sind in der Tat Beispiele für die “wenigen Ausnahmen”. Beide Projekte ergänzen sich hervorragend. Allerdings wäre eine stärkere Einbindung der für diese Fragestellung ebenfalls wichtigen Geldgeschichte wünschenswert gewesen.
Durch weitere Arbeiten läßt sich die Geschichte der Wechselkurse und der Preise übrigens noch weiter zurückverfolgen, nämlich Peter Spufford: Handbook of Medieval Exchange (Royal Historical Society Guides and Handbooks 13), London 1986; Wolfgang Szaivert und Reinhard Wolters: Löhne, Preise, Werte. Quellen zur römischen Geldwirtschaft, Darmstadt 2005; Ulf Dirlmeier: Untersuchungen zu Einkommensverhältnissen und Lebenshaltungskosten in oberdeutschen Städten des Spätmittelalters (Mitte 14. bis Anfang 16. Jahrhundert) (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl. 1978-1), Heidelberg 1978. Vor allem die Habilitationsschrift von Ulf Dirlmeier ist geradezu gespickt mit nicht nur methodisch relevanten Erkenntnissen.
Die Projekte von Kaufhold und Schneider/Denzel sind um die Jahrtausendwende beendet worden, allerdings ohne in der Wirtschafswissenschaft bislang eine auch nur annähernd vergleichbare Wirkung wie die von Ihnen ebenfalls erwähnte Analyse von Friedman und Schwartz zu erzielen.
Wie die beiden Projekte (und vergleichbare Unterfangen zur Katalogisierung von Fundmünzen) zeigen, ist ein Hauptproblem tatsächlich der damit verbundene enorme Arbeitsaufwand. Derartige Grundlagenforschung läßt sich aufgrund der veränderten Forschungsorganisation heute bedauerlicherweise weder in Deutschland noch in anderen Ländern in größerem Umfang betreiben.
Viele Grüße aus Schweden
Hendrik Mäkeler
@ Hendrik...
@ Hendrik Maekeler
“Natürlich gilt es, in der Geschichtswissenschaft nicht nur zu qualifizieren sondern auch zu quantifizieren. Doch lediglich in sehr seltenen Fällen steht eine hinreichend umfangreiche und homogene Datenmenge aus historischer Zeit zur Verfügung, um daraus ein statistisch belastbares Ergebnis gewinnen zu können. Münzfunde sind da eine der wenigen Ausnahmen.”
Sicherlich existiert das Datenproblem, aber ließe sich hier nicht durch zugegeben sehr mühsame Forschung die eine oder andere Lücke schließen? Ich meine mich dunkel zu erinnern, dass es an der Göttinger Uni wohl noch unter Leitung von Professor Kaufhold ein Projekt zur Ermittlung von Preisstatistiken im mitteldeutschen Raum um das Jahr 1600 gegeben hat. Und hat sich nicht Professor Denzel sehr intensiv mit Fragen des Zahlungsverkehrs in alten Zeiten befasst?
Gruß
gb.
Prima, daß hier auf die...
Prima, daß hier auf die Bedeutung von Wirtschaftsgeschichte (wozu auch Finanz- und Geldgeschichte zu zählen sind) aufmerksam gemacht wird! In der Tat profitiert dieser Wissenschaftsbereich von der derzeitigen Abfolge von Krisen, indem ihm vermehrte Aufmerksamkeit zuteil wird. Freilich bedeutet das nicht notwendigerweise, daß man aus der Geschichte etwas lernen wollen würde. Der konsequente nächste Schritt, nämlich das Gelernte in Politik umzusetzen, ist leider noch seltener zu beobachten. Andreas Wirsching, der Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, hat dieses Dilemma elegant dergestalt in Worte gefaßt, daß „das, was wir mittlerweile historisches Erfahrungswissen nennen können, […] relativ wenig abgerufen“ wird (https://www.zeitgeschichte-online.de/site/40209168/default.aspx).
Was den Inhalt des Beitrags anbetrifft: Der Einwand von Herrn Braunberger gegen die Relevanz ausgerechnet der Habsburger für die Umschuldungsfrage scheint aus den von ihm genannten Gründen sehr berechtigt. Ein unlängst erfolgreich beendetes Projekt der Göttinger Akademie der Wissenschaften hat ein auch in dieser Hinsicht außerordentlich lehrreiches mehrbändiges Handbuch der zahllosen Dynastien, Residenzen, Höfe, Grafen und Herren des deutschen Raumes erstellt. Darin finden sich diverse Belege dafür, daß Überschuldung und Bankrott immer wieder zum Verschwinden der davon betroffenen Gebiete von der Landkarte führten. Das war eher die Regel als die Ausnahme, wie die frei herausgegriffenen Beispiele der Grafen von Helfenstein (https://resikom.adw-goettingen.gwdg.de/grafen.php?ArtikelID=39) und der Pfalzgrafen von Tübingen (https://resikom.adw-goettingen.gwdg.de/grafen.php?ArtikelID=121) deutlich machen.
Die Kliometrie scheint in Deutschland nach einem (nicht zuletzt durch den erstmaligen Einsatz von Computern hervorgerufenen) Boom in den 1980er und 1990er Jahren inzwischen stark an Bedeutung verloren zu haben, während sie im angelsächsischen Raum weiterhin teilweise seltsame Blüten treibt. Natürlich gilt es, in der Geschichtswissenschaft nicht nur zu qualifizieren sondern auch zu quantifizieren. Doch lediglich in sehr seltenen Fällen steht eine hinreichend umfangreiche und homogene Datenmenge aus historischer Zeit zur Verfügung, um daraus ein statistisch belastbares Ergebnis gewinnen zu können. Münzfunde sind da eine der wenigen Ausnahmen. Darüber ließe sich allerdings in der Tat ein eigener Beitrag schreiben…
<p>Ich verstehe nicht, warum...
Ich verstehe nicht, warum FAZ neuerlich den Begriff “Kapitalismus” benutzt.
Der Begriff ist ideologisch vergiftet, sowohl von seinen nationalsozialistischen Anwendungen (“jüdischer Finanzkapitalismus” – s. auch Sombarts “Juden und das Wirtschaftsleben”) als auch von seinen stalinistischen und poststalinistischen Anwendungen her.
Auch als zeitgeschichtliche Differenzierung ist der Begriff untauglich. Kapitalbildung hat es im Mittelalter, sogar im Altertum gegeben. Dass die Pharaonen ihre Bauwerke durch unbezahlte Sklaven errichtet hätten, ist historisch widerlegt.
Der Begriff “Industrialisierung” ist dagegen weitaus hilfreicher, sofern es eben nicht die rein funktionale Betrachtung sein soll: da ist eine Krise, mit welchen Mitteln kann man sie beseitigen.
Den von Ihnen erwähnten Kenneth Rogoff kann ich diesbezüglich nur empfehlen. Besonders an den Stellen, wo er ausführt, dass in den vergangenen 200 Jahren eine bemerkenswerte Phase industrieller Innovationen war, die den größten Teil der Menschheit aus der Armut befreit hat. Dann stellt er die Frage, ob wir das Wirtschaftswachstum in diesem Tempo fortsetzen können. Ich zitiere mal: “Ein bis zwei Prozent Wachstum im Jahr klingt wie das Minimum, aber rechnen Sie das mal durch: Wenn wir die nächsten zwei Jahrhunderte das Pro-Kopf-Einkommen um ein Prozent im Jahr steigern würden, dann wären wir am Ende acht Mal so wohlhabend wie heute. Wie wollen wir das hinbekommen, ohne die Umwelt oder die soziale Stabilität zu zerstören? Die Politik denkt leider zu kurzfristig; sie bezieht die Nebeneffekte des Wachstums nicht in ihr Handeln ein”.
Zumindest wünsche ich mir, dass das ökonomische Denken endlich in grundsätzliche Richtung geht, anstatt mit “Kapitalismus” die Wachstums- und Staatsplanungsideologien des 20. ins 21. Jh zu schleppen.
Thank you for this. It is good...
Thank you for this. It is good to see that interest in economic history is spreading beyond academia. History has no lessons to teach except one: the world is complex and simplistic explanations should be resisted.
I just would like to make it clear that I am not against quantitative methods, which can be very useful indeed. I am highly critical of cliometrics, i.e. the application of modern (mainstream) economic theory to past economies and societies. This kind of exercise generates fictitious and anachronistic accounts, often imbued with ideology.
Making comparisons across time is always a risky business. Since their emergence in the early modern period, nation states have always had huge public debts. The problem nowadays is not the debt, especially when economic fundamentals are good, but the system of rules that makes governments dependent on the mood of markets. Just think of the enormous power in the hands of rating agencies, which can rapidly disseminate incorrect or even tendentious information. It is time to decide whether or not politics should lead the Eurozone.
Eine kleine Ergänzung:...
Eine kleine Ergänzung: Cliometrische Methoden haben zu einer neuen Einschätzung der Dynamik der Industriellen Revolution geführt. Ergebnis: Sie war weniger stürmisch als ursprünglich gedacht. Die jahresdurchschnittlichen Wachstumsraten des BIP blieben über einen langen Zeitraum relativ moderat. Diese Forschung ist vor allem mit den Namen von Crafts und Harley verbunden.
Desweiteren sind quantitative...
Desweiteren sind quantitative Verfahren natürlich nicht neu oder eine Modeerscheinung:
1. Schon seit langem dient die Auswertung von Münzfunden zur Rekonstruktion von Handelsrouten und der Bedeutung ehemaliger Handelszentren. Hendrik Maekeler, ein Gastautor und Kommentator in diesem Blog, könnte dazu sicherlich einen ganzen Beitrag schreiben. Er ist Leiter des Münzkabinetts an der Universität Uppsala.
2. Eine sehr einflussreiche quantitative Analyse ist die ein halbes Jahrhundert alte amerikanische Geldgeschichte von Milton Friedman und Anna Schwartz. Sie erklärt die Große Depression im Amerika der dreißiger Jahre mit einer falschen Geldpolitik. Diese Erklärung ist weder unumstritten noch ist sie wahrscheinlich vollständig, aber sie ist auch schwer falsifizierbar.
Gruß
gb.
<p>Rainer Hank und ich hatten...
Rainer Hank und ich hatten vor der Veröffentlichung seines Beitrags eine kleine Debatte zu mehreren Punkten. Ich stimme ihm ganz überwiegend zu, würde aber, um vielleicht eine Diskussion anzuregen, zwei Akzente anders setzen:
1. Ich bin ein Befürworter weiterer staatlicher Umschuldungen in Europa (sie werden vermutlich auch noch anderswo notwendig), die ja vor allem von Finanzinstituten vehement abgelehnt werden. Aber die drei spanischen Umschuldungen des 16. Jahrhunderts erschienen mir als Referenz wenig geeignet. Hierzu zwei Begründungen: Erstens waren die Habsburger damals eine Supermacht wie heute näherungsweise die USA (auch wenn solche Vergleiche über die Jahrhunderte natürlich problematisch sind). Gemeint ist damit, dass die Habsburger auch nach Staatsbankrotten den damaligen Finanzhäusern wie den Fuggern immer wieder attraktive Geschäftsmöglichkeiten in ihren Kernländern wie in ihren Kolonien bieten konnten, was sie auch taten. Zweitens besaßen die Habsburger wegen ihrer Machtstellung erheblichen politischen Einfluss: So verhinderten sie im 16. Jahrhundert einen Prozess am deutschen Reichsgericht gegen Häuser wie die Fugger, die sich des Vorwurfs des Monopolmissbrauchs ausgesetzt sahen. Eine solche Protektion kann man sich auch etwas kosten lassen. Umgekehrt müsste heute kein Investor, weder aus politischen noch aus wirtschaftlichen Gründen, nach einer Umschuldung nach Griechenland oder Spanien zurückkehren.
2. Das damalige Geldsystem kannte kein systematisches Risiko, das heutige schon. Auch wenn ich meine, dass dieses Risiko heute bei Umschuldungen in der europäischen Peripherie beherrschbar sein sollte, muss man es aber doch auf jeden Fall berücksichtigen.
Gruß
gb.