Die großen Zentralbanken der Welt öffnen die Geldschleusen. William White, der frühere Chefökonom der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, warnt vor den unbeabsichtigten Nebenwirkungen der ultra-lockeren Geldpolitik.
Von Patrick Welter, Washington
„Auf lange Sicht sind wir alle tot.” Das berühmte Zitat von John Maynard Keynes leitet derzeit die Geldpolitik der großen Zentralbanken in den Industriestaaten, die eine weitere Lockerungsrunde eingeleitet haben. Am aggressivsten geht die amerikanische Federal Reserve vor, die abermals und diesmal unbefristet Anleihen kauft und darüber hinaus verspricht, die faktische Nullzinspolitik bis mindestens Jahresmitte 2015 beizubehalten. Aber auch die Europäische Zentralbank, die Bank von England und die Bank von Japan lockern ihre Geldpolitik.
In kurzsi chtiger Verzerrung richtet der Fokus der Zentralbanker sich auf die drohende Abschwächung ihrer eigenen Länder und der Weltwirtschaft – und sie vernachlässigen die langfristigen Risiken. Diese Vermutung unterliegt den Warnungen, mit denen William White, der frühere Chefvolkswirt der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel, schon vor gut einem Jahrzehnt die damalige Liquiditätsschwemme gegeißelt und vor der Blasenbildung an den Finanzmärkten gewarnt hatte. Die Finanzkrise hat ihm Recht gegeben. Auch heute warnt White vor der „ultra-lockeren” Geldpolitik und ihren unbeabsichtigten Nebenwirkungen.
Dem Keynes-Zitat stellt er in einem aktuellen Diskussionspapier ein Zitat von Ludwig von Mises gegenüber: „Die Aufgabe des Ökonomen ist es, über die entfernter liegenden Effekte zu informieren, so dass wir Handlungen vermeiden können wie die Versuche, gegenwärtige Übel dadurch zu heilen, dass wir den Samen für künftige größere Übel sähen.” White spielt damit auf die Kontroverse von Keynes und den österreichischen Ökonomen wie von Mises und Friedrich von Hayek an, die sich in den dreißiger Jahren rund um die Weltwirtschaftskrise entwickelte. Während Keynes die damalige Krise als ein Problem der fehlenden gesamtwirtschaftlichen Nachfrage analysierte, betonten die Österreicher als Ursache der Krise eine Kreditblase. Fehlinvestitionen und ein überdehnter Konsum auf Pump führen nach diesem Verständnis unweigerlich zu einem wirtschaftlichen Kollaps.
Hört sich das bekannt an? Dann gilt auch die Warnung der österreichischen Ökonomen, dass die Bemühungen, die Nachfrage mit einer immer lockereren Geldpolitik anzukurbeln, die Grundlage für die nächste Krise legen. Die vergangenen fünfundzwanzig Jahre seit dem Krach am Aktienmarkt 1987 schildert White als eine Abfolge geldpolitischer Versuche, wirtschaftliche Abschwünge zu verhindern oder zu lindern. Die Reihe an Finanzmarktblasen reicht vom Platzen der japanischen Hauspreis- und Aktienmarktblase 1991 über die Asienkrise 1997, den LTCM-Absturz 1998 und die Internet-Blase 2000 bis zum Krach der aufgeblähten Hauspreise nicht nur in den Vereinigten Staaten 2007. Im Kern versuchen die Zentralbanken mit ihrer expansiven Geldpolitik so auch heute, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben.
Die Abfolge der immer größeren Finanzmarktblasen ist die wichtigste der vielen Nebenwirkungen der ultra-lockeren Geldpolitik, die White in einem guten Überblick analysiert. Im Kern schafft eine sehr lockere Geldpolitik dabei die Voraussetzungen, dass die Zentralbanken künftig noch stärker lockernd intervenieren müssen, wobei ihre Instrumente an Durchschlagskraft verlieren.
Andere Nebenwirkungen sind nicht weniger gefährlich und sie gehen weit über die mittelfristig drohenden Inflationsrisiken hinaus. Eine Niedrigzinspolitik begünstigt zum Beispiel unvorsichtige Kreditvergabe. Damit schwächt sie die Banken. Versicherungen verlieren in drastischer Weise an Ertragskraft, mit den entsprechend schädlichen Folgen für die Altersvorsorge vieler. Womöglich werden die Versicherer in riskante spekulative Anlageabenteuer getrieben. Je mehr Notenbanken in einzelnen Märkten intervenieren, desto weniger können diese Märkte echte Informationen über die Lage an den Finanzmärkten liefern. Niedrigzinspolitik verlockt Regierungen dazu, immer größere Schuldenberge aufzutürmen und die Sanierung des Staatshaushalts zu vertagen – siehe Japan und zunehmend auch die Vereinigten Staaten. Der Kauf von Staatsanleihen, um die Geldpolitik an der Nullzinsgrenze noch weiter zu lockern, gefährdet die politische Unabhängigkeit der Zentralbanken. Der krisenbedingte Fokus der Geldpolitik auf die Finanzstabilität erschwert es, dass die Notenbanken sich künftig wieder allein um die Preisniveaustabilität kümmern werden. Niedrigzinspolitik verschärft zudem die Ungleichheit der Einkommen, vor allem zu Lasten konservativer Sparer, die sich den Spekulationsblasen entziehen. Und so weiter und so fort.
Die Zentralbanken nehmen diese Nebenwirkungen in Kauf in der Hoffnung, dass Regierungen und Unternehmen Zeit gewinnen, um die Exzesse von Kredit und Verschuldung zu heilen. White hat Zweifel daran, dass dieses Kalkül aufgeht. Werde die gewonnene Zeit nicht genutzt, folge als logischer Schluss, dass die Zentralbanken die Geldpolitik straffen sollten – unabhängig von der Lage der Wirtschaft.
Es ist kein Zufall, dass Whites Beitrag als Diskussionspapier der Federal Reserve Bank von Dallas erschienen ist. Der Präsident dieser regionalen Fed, Richard Fisher, ist ein geldpolitischer „Falke” und steht der quantitativen Lockerung der amerikanischen Zentralbank ausgesprochen kritisch gegenüber. Tatsächlich verläuft die zentralbankinterne Diskussion in den Vereinigten Staaten mindestens so kontrovers wie in Europa, wo Bundesbankpräsident Jens Weidmann im EZB-Rat isoliert dasteht. Fisher machte gerade in einer bissigen Rede auf eine beunruhigende historische Beobachtung aufmerksam. Weltweit ist es bislang noch keiner Notenbank gelungen, sich aus einer Situation der Nullzinspolitik und des mageren Wachstum, wie sie heute in den Vereinigten Staaten gegeben ist, erfolgreich zu befreien. Die Bank von Japan hält den Leitzins seit dreizehn Jahren faktisch bei null Prozent. Die amerikanische Federal Reserve begann vor fast vier Jahren damit – und ein Ende ist nicht in Sicht.
Richard Fisher (2012): Comments to the Harvard Club of New York City on Monetary Policy, 19. September 2012.
William White (2012): Ultra Easy Monetary Policy and the Law of Unintended Consequences, Federal Reserve Bank of Dallas, Working Paper Nr. 126.
Der Beitrag erschien als Sonntagsökonom in der F.A.S. vom 23. September. Die illustration stammt von Alfons Holtgreve.