Axel Ockenfels ist einer der Pioniere der experientellen Ökonomie. Für seine wegweisende Forschung im Labor hat der Kölner Professor unter anderem den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft erhalten und den wirtschaftlichen Modellmenschen weiterentwickelt. Doch jetzt warnt er davor, den Verhaltensforschern den ganz großen Wurf zuzutrauen. Mit der eigenen Zunft geht er hart ins Gericht, weil sie wichtige wissenschaftstheoretische Grundsatzdebatten meide. Ockenfels selbst hat längst seine eigenen Schlüsse gezogen und sich einem anderen Forschungsbereich verschrieben.
Von Johannes Pennekamp
Herr Ockenfels, Ökonomen und auch gerade Verhaltensökonomen geben sich gerne als Welterklärer. Würde ein wenig mehr Bescheidenheit Ihrer Zunft guttun?
Wir Ökonomen neigen dazu, uns selbst, unseren Studierenden und der Öffentlichkeit weißzumachen, dass unsere Modelle die letzte Antwort sind. Das ist auch der Anreiz in den Journals, die stets „final answers'” möchten und keine Kontroversen. Das ist falsch. Ein ehrlicherer Umgang würde allen nutzen. Das fängt im Hörsaal an: Ich glaube, dass wir unsere Studierenden zu wenig darüber aufklären, wo wir mit unseren Modellen stehen, was Modelle können und was nicht, warum wir dort stehen wo wir stehen, und was noch fehlt.
Auch in der experimentellen Wirtschaftsforschung gibt es Defizite, auf die selten hingewiesen wird. Etwa könnte man bemängeln, dass es eine ganze Reihe spannender Erkenntnisse gibt, aber ein allumfassender Ansatz, der die Erkenntnisse miteinander verbindet, nicht in Sicht ist. Wie gehen Sie damit um?
Erlauben Sie mir, Ihnen mein Bild der Wirtschaftstheorie zu skizzieren; ich glaube, dies beantwortet einige Fragen. Ich stelle mir wirtschaftswissenschaftliche Theorien als Landkarten vor. Um die Bewegung von Planeten zu verstehen, reicht es in der Regel aus, sich die Erde als einen Massepunkt vorzustellen – die einfachste Version einer Landkarte. Ein Autofahrer benötigt jedoch eine detailliertere Karte. Aber eine Landkarte, die die Erdoberfläche bis zur letzten Wölbung abbildet, ist wenig hilfreich, wenn man von der Kölner Universität zur FAZ nach Frankfurt fahren möchte. Welche Landkarte nützlich ist, hängt von der Fragestellung ab.
Man benötigt demnach viele verschiedene Landkarten und nicht die eine große. Der Homo oeconomicus könnte demnach auch eine dieser Landkarten sein?
Ja. Ich sehe den Homo oeconomicus nicht als ein Modellgebäude, das es abzuschaffen gilt. Es ist sehr einfach und hat sich in vielen Bereichen der Wirtschaftswissenschaft als nützlich erwiesen. Beispielsweise fangen einfache wirtschaftswissenschaftliche Modelle des homo oeconomicus mit asymmetrischer Information oder mangelnder Koordination Vertrauensprobleme ein, wie sie in der Finanzkrise beklagt wurden. Doch manchmal geht Vertrauen als soziales Phänomen über diese Theorien hinaus. Dann muss man sich tiefer in die menschliche Psyche und den sozialen Kontext wagen.
Da kommt die Verhaltensforschung ins Spiel?
Tatsächlich hat die Verhaltensökonomik in den letzten Jahren Vertrauensmodelle entwickelt. Doch alle Modelle menschlichen Verhaltens, die präzise Prognosen treffen, können falsifiziert werden. Die vielen Quellen des Verhaltens sind viel zu vielschichtig und komplex als dass man sie alle in einem universellen Modell einfangen könnte. Neuere Erkenntnisse zeigen etwa, wie Vertrauen auch systematisch durch biologische, neurologische und chemische Prozesse beeinflusst werden. Das bedeutet jedoch nicht automatisch, dass ökonomische Vertrauensmodelle, die von solchen Prozessen abstrahieren, unnütz sind. Die Erde ist auch kein Massepunkt, und dennoch ist das Massepunktmodell für viele Zwecke eine überaus nützliche Vereinfachung. Vereinfachungen und der Fokus auf die wesentlichen Bestimmungsgründe ermöglichen Orientierung in komplexen Systemen. Welche Landkarte die richtige ist, hängt von dem Kontext ab. Zudem ist es oft erst die Überlagerung verschiedener Landkarten, erstellt in unterschiedlichen Disziplinen, die zum Ziel führt.
Welche Rolle nehmen dabei die Verhaltensökonomik und die experimentelle Wirtschaftsforschung ein?
Die Verhaltensökonomik und die experimentelle Wirtschaftsforschung hat solche neuen Landkarten gezeichnet. Dabei ist übrigens nicht die Frage, ob Theorie oder Experimente, oder Laborexperimente oder Feldexperimente ‘besser’ sind. Die experimentellen Methoden und Theorien stehen in einem komplementären Verhältnis zueinander. Erst durch robuste experimentelle und empirische Ergebnisse zusammen mit einem theoretischen Verständnis kommen wir zu Praxisrelevantem Erkenntnisfortschritt.
Ökonomen vermitteln sonst eher gerne das Bild, als seien sie eigenständig in der Lage, den ganz großen Wurf, die ganz große Erklärung zu liefern. Vertreten Sie eine Minderheitenmeinung?
Solche wissenschaftstheoretischen Fragen werden überhaupt nicht oder viel zu wenig diskutiert. Dies äußert sich beispielsweise darin, dass in der Wirtschaftswissenschaft der Unterschied zwischen einem Modell und einer Theorie weitgehend ignoriert wird, was die Modellgläubigkeit verstärkt, und zu einer merkwürdigen Art und Weise führt, wie wir zuweilen Theorien testen – nämlich indem wir oft versuchen, das Modell so gut wie möglich nachzuahmen anstatt den empirischen Gehalt der Theorie im relevanten Kontext zu prüfen.
Sie selbst zählen zu den Pionieren, die eine dieser „Landkarten” entworfen haben, von denen Sie sprechen. Was können wir aus Ihrer Theory of Equity, Reciprocity and Competition lernen?
Es ist ein Modell, das fundamentale Einsichten darüber erlaubt, wie Fairness und Eigennutz als Motivationen menschlichen Verhaltens mit verschiedenen Institutionen und Anreizsystemen interagieren. Diese Einsichten waren damals für Ökonomen revolutionär, und haben sich als sehr nützlich erwiesen sowohl für die Grundlagenforschung zur ‘Natur sozialen Verhaltens’, als auch für praktische Anwendungen. Es ist auch ein Modell, das aufzeigt, welche motivationalen Elemente bei komplexeren Modellen menschlichen Verhaltens berücksichtigt werden sollten.
Sehen Sie Ihren Ansatz eigentlich als Bruch mit dem Homo oeconomicus oder eher als Modifikation?
Es ist ein Bruch mit der Eigennutzhypothese, aber nicht mit der Nutzenmaximierungshypothese. Wenn der Homo oecomicus also auch durch Eigennutz charakterisiert ist – was er praktisch ist, aber theoretisch nicht sein muss -, ist es ein Bruch. Es ist wichtig zwischen Verhalten zu unterscheiden, das bewusst und absichtlich vom homo oeconomicus abweicht, und eingeschränkt rationalem Verhalten, das beispielsweise auf Fehlern in der Informationsverarbeitung beruht. ERC ist ein Modell, dass sich mit intendierten Abweichungen von Eigennutz beschäftigt. Es hat frühere Modelle, die behauptet haben, Fairness sei letztlich irrationalem Verhalten geschuldet, erfolgreich abgelöst. Heute ist es Konsens in unserer Zunft, dass Fairness eine wichtige Rolle bei ökonomischen Entscheidungen spielen kann, und unsere Modelle halten bereits Einzug in einführende Lehrbücher. Das ist ein großer Fortschritt.
Das Modell ist nicht konstruiert, um kognitive Beschränkungen menschlichen Verhaltens abzubilden. Ist das ein Problem?
Ich meine nicht. Das Modell ist gerade deswegen so erfolgreich, weil es zeigt, wie mit einem sehr einfachen motivationalem Prinzip sehr unterschiedliche und auch überraschende Verhaltensweisen organisiert werden können. Es ist ja gerade Ziel des Modells zu zeigen, dass kognitive Beschränkungen bei vielen fundamentalen Phänomenen sozialen Verhaltens eine eher untergeordnete Rolle spielen.
Bedeutet dies, dass kognitive Beschränkungen keine Rolle spielen?
Ganz und gar nicht. Aber ein Modell, das versuchen würde, alle Einflussfaktoren menschlichen Verhaltens auf einmal abzubilden, wäre aufgrund der unüberschaubaren Vielzahl von ökonomischen, psychologischen, biologischen und anderen Mechanismen wertlos.
Gibt es andere Kritik, die Sie beschäftigt?
Ja, es gibt eine sehr berechtigte Kritik: Unser Modell hat eine große Welle von weiteren Modellen der Motivation ökonomischen Verhaltens ausgelöst. Das wichtige Gebiet der kognitiven Beschränkungen, das ich stets auch beackert habe, ist dabei unter die Räder gekommen. Ein Grund dafür dürfte sein, dass sich kognitive Beschränkungen nicht so leicht in die Nutzenmaximierungswelt der Ökonomen einbauen lassen. Ich bin aber davon überzeugt, dass die Frage, welche Informationen wie verarbeitet werden, von zentraler Bedeutung für unser Verständnis ökonomischen Verhaltens ist. Wir brauchen auch in diesem Gebiet eine Revolution hin zur “ökonomischen Kognition”. Ich glaube aber, dass es noch 10-20 Jahre dauern wird, bis Ökonomen auch hier entscheidende Fortschritte gemacht haben.
Wir sind in vielen Dingen noch nicht so weit. Man darf nicht vergessen, dass die Wirtschaftswissenschaft insgesamt, aber gerade auch die ökonomische Verhaltenswissenschaft eine sehr junge Disziplin ist.
Bei all den Beschränkungen, die Sie erwähnen. Sollten Verhaltensökonomen schon heute -so wie beispielsweise in Großbritannien – Politikberater sein?
Unbedingt. Aber sie sollten nicht die einzigen Politikberater sein, sondern ihre Perspektiven ergänzend zu anderen Erkenntnissen einbringen.
Sie selbst beschäftigen sich heute nicht mehr vorwiegend mit Anomalien, die sich in Diktator- oder Ultimatumspielen zeigen, sondern mit dem richtigen Marktdesign. Besteht ein Zusammenhang dazu, dass die Suche nach einem allumfassenden Ansatz nicht zielführend ist?
Ja, unbedingt! Ein Problem ist, dass Ökonomen dazu neigen, in ihren eigenen, kleinen Welten zu leben. Damit drohen sie aber, den Bezug zur realen Welt zu verlieren. Das gilt auch für Verhaltensforscher. Es gibt zwar nur wenig Möglichkeiten, sich rational zu verhalten, aber unendlich viele Möglichkeiten, sich irrational zu verhalten. In der Wissenschaft beobachten wir deshalb eine Jagd nach statistischer Signifikanz von allen erdenklichen irrationalen Verhaltenseffekten. Zuweilen scheint das Prinzip “je abstruser desto besser” die Leitlinie zu sein. Erzeugt werden die Effekte in der Regel in konstruierter Laborumgebung. Es mag teilweise durchaus gute Gründe dafür geben, extreme Verhaltensweisen zu studieren. Ob aber ein bestimmter Verhaltenseffekt und ein bestimmtes Verhaltensmodell auch ökonomische Signifikanz und praktische Relevanz besitzt, wird oft nicht hinterfragt. An dieser Stelle ist Economic Engineering wichtig, weil sie die Wirtschaftswissenschaft erdet.
Was gibt Ihnen Hoffnung, dass diese Erdung auch in der Ökonomie gelingt?
Die Ingenieurskunst führt auch in anderen Wissenschaften zu maßgeblichem Erkenntnisfortschritt. Natürlich sind in der Praxis auch fundamentale theoretische Einsichten von elementarer Bedeutung, und auch die Ökonomik kommt ohne die konzeptionellen Einsichten der Standardtheorie nicht aus. Aber wenn es darum geht, Erkenntnisse über eine komplexe, reale Welt zu gewinnen, dann ist es der konkrete und reale Wunsch, eine Brücke über einen Fluss zu bauen, eine Rakete zum Mars zu schießen, oder eine Medizin gegen eine Krankheit zu entwickeln, der letztlich den Erkenntnisfortschritt erzeugt. Diese direkte Rückkopplung mit der Realität fehlt in der Wirtschaftswissenschaft weitgehend, einschließlich ihrer Verhaltensforschung. Da gibt es nur einzelne Ausnahmen. Die Wirtschaftswissenschaft als Ingenieurskunst, an der Schnittstelle zur Praxis, ist ein junger, sehr viel versprechender Ansatz zur Weiterentwicklung unserer Wissenschaft im Dienste der Menschen und Märkte. Von ihr erhoffe ich mir sehr viel.
Frühere Beiträge aus der Reihe Gespräche mit Ökonomen:
1. Rüdiger Bachmann (RWTH Aachen) über DSGE-Modelle in der Makroökonomik
2. Daron Acemoglu (MIT) über die Anwendung seiner Institutionenökonomik auf die Eurokrise
3. Carl Christian von Weizsäcker (Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern) über die Begründung sehr niedriger Zinsen durch die Kapitaltheorie