Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Alte Meister (3): Friedrich Engels – der Kapitalist

Ein großer Fabrikant und begnadeter Spekulant: Friedrich Engels muss rehabilitiert werden.

Ein großer Fabrikant und begnadeter Spekulant: Friedrich Engels muss rehabilitiert werden.

Von Rainer Hank

Es war im Spätsommer 1870, kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag, da zog der Unternehmer Friedrich Engels zusammen mit seiner langjährigen Geliebten Lizzie Burns von Manchester nach London. 122 Regent’s Park Road lautete die auch heute noch teure, aber schon damals elegante Adresse am Primrose Hill im Norden der Stadt: vier Schlafzimmer, ein Arbeitszimmer, zwei Wohnzimmer, eine Küche und ein “sehr geräumiges Badezimmer mit Badewanne” mussten es schon sein. “Man gewöhnt sich nur schwer an die trübe Luft und die meist trüben Menschen”, klagte Engels über seine neue Umgebung. Aber ansonsten ließ es sich dort gut leben. Alle Frontzimmer hatten “die herrlichste freie Aussicht”.

Erst kurz vor seiner Übersiedlung nach London war Engels zum Fabrikant im Ruhestand geworden. Für die Summe von 12 500 Pfund (nach heutigem Wert etwa 1,5 Millionen Euro) hatte er sich seine Anteile aus dem familieneigenen Unternehmen, der Baumwollspinnerei Victoria Mills von “Ermen & Engels” ausbezahlen lassen. Das war weniger Geld als erhofft. Weil inzwischen aber ein ordentliches privates Vermögen bei ihm aufgelaufen war (Aktien, Anleihen und liquide Barguthaben), erlaubte dieses Polster dem Mann im besten Alter, fortan als “Rentier” zu leben: als sein eigener aktiver Fondsmanager, würde man heute sagen. Ein Gambler mit Freude am Gewinn.

Die Zeiten waren gut und Aktien der neueste Schrei. “Ohne sie hätten wir weder Eisenbahnen noch irgendeine andere jener großen Unternehmungen der Neuzeit”, heißt es in Émile Zolas großem Börsenroman “L’Argent”: “Man braucht ein großartiges Projekt, dann lodern die Leidenschaften auf.” Obligationen, Anleihen hingegen, galten als “totes Material”.

Bild zu: Alte Meister (3): Friedrich Engels - der Kapitalist

Engels (Quelle: Ullstein Bild) war längst angesteckt von der Lust an der Aktienspekulation. “Wir sind jetzt hier in vollem Schwung der Prosperität und der flotten Geschäfte”, schrieb er aus London: “Kapital ist im Überfluss auf dem Markt und sucht überall nach profitablem Unterkommen.” London war dabei, sich zur “City” zu entwickeln: Dem Zentrum des Finanzkapitalismus, auch damals schon in gehöriger Distanz zur sogenannten Realwirtschaft. In der City wurde das Geld eingesammelt, das den Kapitalismus in Fahrt brachte. Und Friedrich Engels, der Sohn eines pietistischen Baumwollfabrikanten aus Wuppertal (Barmen, um genau zu sein), fühlte sich in dieser Welt mindestens so wohl wie der Fisch im Wasser.

“Ich habe auch Papierches, kaufe und verkaufe zuweilen”, schrieb Engels. Das dürfte Understatement sein. Bei seinem Tod hinterließ er ein Aktienpaket von immerhin 22 600 Pfund (heute etwa 2,7 Millionen Euro), darunter Anteile an der Northern Railway Company oder der Foreign & Colonial Government Trust Company (eine börsennotierte Investmentgesellschaft, aktiv vor allem in den Kolonien des riesigen Empires). Tipps fürs Investment bezog der Mann selbstredend aus dem 1843 gegründeten liberalen “Economist”: “So kindlich bin ich nicht, mir bei meinen Operationen in der sozialistischen Presse Rat zu holen.” Neben dem beträchtlichen Finanzvermögen hinterließ Engels übrigens ein weiteres liquides Vermögen: Ein Depot von mehr als 1000 Flaschen Wein und Champagner.

Es gilt, einen Mann neu zu entdecken, dem von der Nachwelt Unrecht getan wurde: Es gilt, den erfolgreichen Unternehmer und Spekulanten Friedrich Engels zu würdigen. Wahrscheinlich musste der Kommunismus erst untergehen, um den Kapitalisten Engels angemessen porträtieren zu können: Als Textilmagnat und leidenschaftlichen Fuchsjäger, als aktives Mitglied der Börse und zugleich draufgängerischen, lebensfrohen, dem Alkohol zugeneigten Liebhaber der schönen Dinge: Das sind Hummersalat, Château Margaux, Pils (damals gerade ein Modegetränk), und, last, but not least, kostspielige Frauen in nicht geringer Zahl, wie sein Biograph, der britische Historiker und TV-Moderator Tristram Hunt, in seiner in diesem Jahr auf Deutsch erschienenen brillanten Monographie erzählt: Engels, so Hunt, war ein “begnadeter Womanizer” und stets voller “bacchantischer Gelüste”.

“The Froack-Coated Communist” ist Hunts Biographie im englischen Original betitelt: “Frock-coatet”, so lernen wir, ist der elegante Gehrock des viktorianischen Gentleman, nicht wirklich die Kleidung, wie man sich den Revolutionär gewöhnlich vorstellt. Die Nachwelt wollte in Engels nur den Kommunisten sehen; dass er “frock-coated” war, war ihr peinlich.

Ohnehin hatten Marxisten wie Antimarxisten immer ein größeres Interesse an Karl Marx, der, je nach Einstellung, als Erfinder der Sowjetunion und DDR verdammt oder als Verfechter eines edlen und leidenschaftlichen Humanismus und Kommunismus verehrt wurde. Dagegen sprach man den Determinismus, Positivismus und die mechanische Denkweise des “historischen Materialismus” dem Einfluss Engels’ zu. Diese Lehren aber waren für Freund wie Feind stets der eher langweilige Teil der kommunistischen Bibel.

Dass Marx stets im Licht und Engels in seinem Schatten gemalt werden, ist nicht zuletzt deshalb hochgradig ungerecht, weil Engels Marx über viele Jahre teuer finanzierte (mal mit Pfundnoten, mal mit Sherry und Cognac): Mehr als die Hälfte seines Jahreseinkommens überwies er an Marx, nicht, weil dieser arm war, sondern weil er meinte, diese Mittel für ein standesgemäß bourgeoises Leben zu benötigen und weil er schlicht mit Geld nicht umgehen konnte.

Ein wenig war es auch Engels selbst, der zur Zurücksetzung gegenüber Marx das Seinige beitrug, wenn er 1884, ein Jahr nach dessen Tod, in einem Brief, gewiss nicht nur kokett, seine Rolle beschrieb: “Ich habe mein Leben lang das gemacht, wozu ich gemacht war, nämlich die zweite Violine zu spielen.” Da ließ sich rasch übersehen, dass dieser zweite Geiger des Sozialismus als fulminanter Entrepreneur des Kapitalismus eine erste Geige spielte. Mehr noch: Engels hatte zwar weder eine philosophische Ausbildung noch Kontakte zur Universität. Dafür wusste er aber, wovon er sprach, wenn er über den Kapitalismus schrieb.

Davon kann man sich ebenfalls jetzt einen Eindruck verschaffen in dem gerade neu erschienenen und von dem britischen Historiker Gareth Stedman Jones hervorragend kommentierten “Kommunistischen Manifest”, 1848 von Marx und Engels in großer Eile gemeinsam verfasst, bei seinem ersten Erscheinen kaum beachtet, aber nach der deutschen Neuauflage von 1872 rasch zum internationalen Bestseller geworden. Die Literatur darüber, welchen Anteil die beiden Verfasser an dem Gemeinschaftswerk der kommunistischen Bibel haben, füllt Forschungsbibliotheken. Doch immer schon war den Lesern aufgefallen, dass das Manifest in seinem ersten Teil mit einer fulminanten Lobrede auf die Errungenschaften der Bourgeoisie beginnt, der fast mehr erzählerischer Platz eingeräumt wird als der Utopie von Sozialismus und Kommunismus.

Sicher ist: Das Erfahrungswissen über das bürgerliche Unternehmertum, welches das Manifest so brillant analysiert, stammt nicht vom Linkshegelianer Marx, sondern vom Schulabbrecher Engels, der, anstatt zu studieren, schon 1838, im Alter von achtzehn Jahren also, vom Vater einen Crashkurs in globalem Kapitalismus in Bremen verpasst bekommen hatte: Da galt es, Päckchen nach Havanna zu verschicken, Schinkensendungen aus der Karibik entgegenzunehmen, um dabei wie von allein die Grundlagen des Im- und Exportgeschäfts zu erlernen, was es mit Einfuhrzöllen auf sich hat und wie Währungsgeschäfte zur Absicherung funktionieren.

Wer durch diese Schule gegangen ist, seinen Adam Smith gelesen hat und, by the way, später zwanzig Jahre tagein, tagaus als Manager im eigenen Konzern seine Arbeit gemacht hat, der hat den Kapitalismus verstanden. Dazu kommt bei Engels noch die Gabe, eine wunderbare Prosa zu schreiben: “Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen ist, hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt.”

Das ist bis heute so geblieben, lässt sich am Beginn des 21. Jahrhunderts feststellen. Bürgerliche Tugenden und kapitalistischer Drive haben es verstanden, Wohlstand nicht für eine separate Klasse, sondern Wohlstand für alle zu schaffen. Der “Stolz des Systems der Handelsfreiheit”, so beschreibt Engels treffend, habe alle kleinen Monopole vernichtet, “um das eine große Grundmonopol, das Eigentum, desto freier und schrankenloser wirken zu lassen”.

Das hat seinen Preis. Es ist die ruhelose Dynamik der “freien Konkurrenz”: “Ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnen die Bourgeoisie vor allen anderen aus.” Da spricht Engels, der kommunistische Utopist, dann viel eher wie sein Freund, der viktorianische Konservative William Carlyle: “Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden von der Bourgeoisie aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.”

Engels, der mit dem klaren Blick des Soziologen und Urbanisten schon früh die “Lage der arbeitenden Klasse in England” beschrieb, wusste als Unternehmer, dass Arbeiter, sind sie nicht produktiv, auch keinen Lohn verdienen. “Gottfried hat mir da 3 Kerle engagiert, die nichts wert sind. Ich werde sie schassen müssen”, berichtete er Marx. Wenig später feuerte er auch einen Büroangestellten: “Dies machte das Maß seiner Liederlichkeit voll, und er wurde geschasst.”

Doch wo bleibt Engels, der “marxistische” Programmatiker? Sein Biograph Tristram Hunt behilft sich mit der Metapher des “Doppellebens”: tags Kapitalist, nachts sozialistischer Utopist, ein Mr. Jekyll und Mr. Hyde. Das leuchtet immerhin mehr ein als die marxistische Apologetik, die sein unternehmerisches Engagement als ökonomische Notwendigkeit deutet, quasi ungeliebte Pflicht, einen Brotberuf zu finden. Nein, Engels war Fabrikant und Spekulant aus Leidenschaft.

Der Kulturwissenschaftler Patrick Eiden-Offe geht einen Schritt weiter: Engels, der Fabrikant und Bohemien, war in all seinen Engagements durch und durch Entrepreneur: Immer musste er etwas unternehmen. Mal ist er Exportkaufmann, mal Betreiber der Baumwollspinnerei, dann wieder entwickelt er zahllose Zeitschriftenprojekte (die Deutsch-Französischen Jahrbücher, die Rheinischen und Deutsch-Brüsseler Zeitungen und so fort). Und mal ist der Mann eben auch “Unternehmer in Sachen Weltrevolution”. Ein echter Spieler. Der Projektemacher Engels, er verkörpert das ironisch-spontanistische Gegenmodell zum Lebensentwurf des Berufskommunisten, der aus Engels später einen Dogmatiker gemacht hat.

 

Der Mensch

Friedrich Engels (1820 bis 1895) war das älteste von neun Kindern des erfolgreichen Baumwollfabrikanten Friedrich Engels. Früh rebellierte er gegen den pietistischen Geist des Elternhauses. Der Vater nahm ihn ohne Abschluss von der Schule und schickte ihn zur Lehre ins Unternehmen. 1842 lernte Engels Karl Marx kennen; für den “Bund der Kommunisten” verfassten sie das Kommunistische Manifest (1848). Engels arbeitete bis 1869 in der väterlichen Firma in Manchester, bevor er sich als Spekulant und revolutionärer Schriftsteller in London niederließ. Im Propyläen-Verlag ist 2012 erschienen: Tristram Hunt: Friedrich Engels. Der Mann, der den Marxismus erfand.

 

Das Unternehmen

Friedrich Engels’ Urgroßvater Johann Caspar I. (1715 bis 1787), gab die Landwirtschaft auf zugunsten der Industrie und zog mit nur 25 Talern in der Tasche nach Barmen ans Ufer der Wupper, um ein Unternehmen zum Bleichen von Flachsfasern zu gründen. Der Enkel, Engels’ Vater, gründete 1837 zusammen mit zwei holländischen Brüdern ein neues, erfolgreiches Unternehmen, “Ermen & Engels”, das neben Flachsbleichen auch Baumwollspinnereien in Manchester und Wuppertal betrieb. Friedrich Engels jun. arbeitete bis 1869 im Unternehmen in Manchester. 1979, im Zuge der Krise der deutschen Textilindustrie, wurde die Produktion bei Ermen & Engels für immer eingestellt.

 

Dieser Beitrag ist zuerst am 2. Dezember 2012 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen.

Eine kleine Ergänzung: Der deutsche Ökonom Wolfram Engels (1933 bis 1995) war ein Nachfahre Friedrich Engels’.(gb.)

In der FAZIT-Reihe “Alte Meister” sind bisher erschienen:
Alte Meister (1): Werner Sombart – Ode an den Dämon
Alte Meister (2): Leonhard Miksch – Der Mann hinter Ludwig Erhard