Angriff auf das Konkurrenzprinzip: Die Bedeutung von Widerspruch und Abwanderung für Institutionen.
Von Christian Siedenbiedel
Was machen Menschen, die seit Jahren immer im selben Kaufhaus einkaufen und auf einmal mit einem drastisch nachlassenden Angebot konfrontiert sind? Die Verkäufer werden unfreundlicher, die Waren immer schlechter. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man beschwert sich beim Chef in der optimistischen Annahme, dieser werde den Verkäufern schon Beine machen, mehr auf die Qualität achten und sein Kaufhaus zur gewohnten Leistung zurückführen. Oder, einfacher: Man kauft künftig woanders ein.
Die Alternative zwischen Abwanderung und Widerspruch (“Exit” und “Voice”) wurde zu einer der fruchtbarsten Theorien des 20. Jahrhunderts. Ihr Erfinder heißt Albert O. Hirschman, ein in Berlin geborener Ökonom und Politologe, der am vergangenen Montag im Alter von 97 Jahren in Amerika gestorben ist. Es ist Hirschmans Leistung, herausgearbeitet zu haben, wie die beiden Reaktionsweisen zusammenhängen – und wie ihre Dichotomie viele Situationen im täglichen Leben verblüffend erklären kann.
Aufgefallen sind Hirschman “Exit” und “Voice” auf einer Reise durch Nigeria. Genauer gesagt, bei der dortigen Staatsbahn. Der Güterverkehr auf der Schiene wurde schlechter und schlechter – obwohl die Bahn in starkem Wettbewerb mit Lastwagen stand. Nach der klassischen Lehre der Ökonomie hätte die Konkurrenz das Geschäft eigentlich beleben müssen. Das Gegenteil aber war der Fall: Besonders zahlungskräftige und starke Bahnkunden, die Güter schnell zu transportieren hatten, wichen auf Lastwagen aus. Die Bahn verlor zwar Einnahmen, aber das war dem Management wegen der staatlichen Finanzierung nicht so wichtig. Und die Kunden, die bei der Bahn blieben, ärgerten sich zwar über die desaströse Leistung – waren aber zu schwach, als dass ihr Protest großartig wahrgenommen worden wäre.
Hirschman zog daraus den Schluss: Wenn Menschen in solchen Situationen abwandern können, schwächt das die Gruppe, die widerspricht. Umgekehrt kann die Möglichkeit, Widerspruch zu leisten, die Tendenz zur Abwanderung verringern.
Dieses Prinzip lässt sich auf viele Bereiche des Lebens übertragen. Auf Schulen zum Beispiel: Wenn für Eltern eine Möglichkeit besteht, ihre Kinder von der schlechten öffentlichen Schule auf eine nahe gelegene private Schule wechseln zu lassen, schwächt das ihr Interesse, sich an der staatlichen Schule zu engagieren, um dort etwas zu verändern. Für Parteien gilt ähnlich, dass in Zweiparteiensystemen Konflikte eher innerhalb der Parteien ausgetragen werden – in Mehrparteiensystemen hingegen Mitglieder schneller abwandern. Sogar auf die Ehe übertrug Hirschman sein Modell: Ein hartes Scheidungsrecht führe zu mehr Konflikten innerhalb der Ehe – ein laxes zu vielen Scheidungen.
Es ist die Monopolstellung des Konkurrenzprinzips in der Ökonomie, die Hirschmann mit seiner Theorie angriff. “Exit” und “Voice” sind nämlich keineswegs beliebige Reaktionsmöglichkeiten. Vielmehr ist das Prinzip der Abwanderung das ökonomische Prinzip selbst. Es ist Marktverhalten, das man allein verfolgen kann und für das man keine Absprachen braucht. Wohingegen der Widerspruch das ursprüngliche Prinzip des Politischen ist. Widerspruch muss, damit er wirksam wird, gemeinsam erfolgen, Menschen müssen ähnliche Interessen artikulieren und diese auch organisieren. Hirschman plädierte in seiner Analyse dafür, die scharfe Konkurrenz jedenfalls nicht von vornherein vorzuziehen, wie dies Ökonomen sonst tun. Das Politische (Protest) und das Ökonomische (Konkurrenz) kommen selbst miteinander in Wettbewerb.
Es war sicher kein Zufall, dass sich ausgerechnet der Exilant Hirschman mit der Frage von Abwanderung und Widerspruch so intensiv auseinandersetzte. 1915 in Berlin geboren, engagierte sich der protestantisch getaufte, aus einer jüdischen Familie stammende Hirschman schon früh in der sozialistischen Jugendbewegung. 1933 verließ er Deutschland, ging zunächst nach Frankreich, kämpfte später im Spanischen Bürgerkrieg und meldete sich 1940 freiwillig zur französischen Armee. Er verhalf vielen Intellektuellen zur Flucht in die Vereinigten Staaten. 1941 floh er dann selbst nach Amerika.
Die Idee zur Theorie von Exit und Voice sei ihm zwar in Nigeria gekommen, schrieb Hirschman später. “Aber nach der Veröffentlichung des Buches kam mir zum Bewusstsein, dass es tiefere Gründe sein mögen, die mich an das Thema fesselten.” Ein großer Teil des Buches kreist schließlich um die Besorgnis, dass durch die Abwanderung der Mobilsten in einer Gruppe der Widerspruch geschwächt wird: Es gebe wohl eine Verwandtschaft zwischen dieser Situation und dem Schicksal der Juden, die noch nach 1939 in Deutschland waren, meinte Hirschman. “Die meisten Jungen und Tatkräftigen sind, wie ich selbst, in den ersten Jahren nach Hitlers Machtergreifung abgewandert und hinterließen eine ernstlich geschwächte Gemeinschaft.”
Damals habe es sicherlich praktisch keine Möglichkeit für einen wirksamen Widerspruch gegeben – wer auch immer ging oder blieb. “Dennoch, der eigentliche Ursprung des Buches mag wohl ein sorgfältig unterdrücktes Schuldgefühl sein, das einfach da ist, wenn es auch verstandesmäßig absurd erscheint.”
Hirschman hatte Professuren in Yale, an Columbia, in Harvard und Princeton. Außerdem diente er in seinem Leben ganz unterschiedlichen Regierungen als Berater. So war er am Aufbau des Marshallplans für Deutschland beteiligt. Später arbeitete er für Regierungen in Lateinamerika, etwa Kolumbien. Seine Erfahrungen dort begründeten seine Entwicklungstheorie. Auf diesem Feld sei er ein “tragischer Held” geblieben, schrieb Nobelpreisträger Paul Krugman einmal.
Eine interessante Geschichte erzählte Hirschman selbst über die Veränderung seines Namens. In Deutschland hatte er sich mit zwei “n” geschrieben. Und sein Rufname war Otto. Schon als er nach Frankreich auswanderte, besann er sich aber auf seinen zweiten Vornamen Albert; Otto klang auf Französisch zu sehr wie “Auto”. Und als ihm später bei der Emigration in die Vereinigten Staaten der amerikanische Beamte der Einwanderungsbehörde das zweite “n” des Nachnamens raubte, nahm Hirschman das zwar hin – für das “c” im Hirsch kämpfte er aber. Seither führte der Ökonom den Namen Albert O. Hirschman, unter dem er berühmt wurde.
Nach Deutschland kehrte Hirschman erst viele Jahre nach seiner Flucht zurück. Nach dem Mauerfall untersuchte er, inwieweit sich seine Theorie von “Exit” und “Voice” auf die friedliche Revolution in der DDR übertragen lässt. Er kam zu dem Schluss, dass sich seine Ausgangsthese hier eigentlich nicht halten lasse. Obwohl gegen Ende der DDR die Abwanderung immer stärker wurde, schwächte das den Widerspruch nicht – im Gegenteil. Hirschman folgerte: In extremen Situationen könnten sich Abwanderung und Widerspruch auch ergänzen. Wer gehe, gebe der Stimme der Bleibenden mehr Gewicht. Kein Wunder, dass Weggefährten Hirschman bescheinigten, eine Eigenschaft zeit seiner Lebens gezeigt zu haben: Lauterkeit.
Albert O. Hirschman: Exit, Voice, and Loyalty. Responses to Decline in Firms, Organizations and States. Harvard University Press, Cambridge 1970.
Christian Siedenbiedel ist Wirtschaftsredakteur in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Der Beitrag erschien am 16. Dezember 2012 in der Rubrik “Sonntagsökonom”.
In der FAZIT-Reihe “Alte Meister” sind bisher erschienen:
Alte Meister (1): Werner Sombart – Ode an den Dämon
Alte Meister (2): Leonhard Miksch – Der Mann hinter Ludwig Erhard
Alte Meister (3): Friedrich Engels – Der Kapitalist