Die Erfindung der Versicherung ist gewiss ein Fortschritt im Gang der menschlichen Zivilisation: Viele möglicherweise von einem Schaden Betroffene zahlen Prämien, die ausreichen, um wenige, die wirklich betroffen sind, zu entschädigen. Eine Versicherung organisiert Solidarität in einer Gesellschaft auf der Grundlage der Verfolgung rationaler Interessen aller. Weil niemand weiß, in wessen Haus der Blitz einschlägt, aber die Mathematiker die statistische Wahrscheinlichkeit von Gewittern und Blitzeinschlägen errechnen können, können die Versicherer die Prämien einigermaßen präzise kalkulieren.
Nicht selten bek ommt ein komisches Gefühl, wer ständig in eine Versicherung einzahlt, ohne die Chance zu haben, daraus auch einmal Geld zu entnehmen. Zwar ist genau das das Prinzip der Versicherung (man hat dann eben Glück gehabt), aber menschlich verständlich ist es auch, sich einen Teil der Prämien zurückholen zu wollen: Man muss ja nicht gleich an Brandstiftung denken, aber der ein oder andere zusätzliche Arztbesuch legt sich nahe, weil man ja ohnehin in die Krankenversicherung eingezahlt hat. Jede Versicherung kennt das Problem des „Moral Hazard”, das man auch „common pool problem” (Foto: Reuters) nennt: Aus einem Fonds, von vielen gespeist, wollen alle sich bedienen, weil sie schwer ertragen, dass nur die anderen profitieren.
Die Erfindung der Versicherung für kollektive Risiken (Alter, Arbeitslosigkeit, Armut, Krankheit) ist ebenfalls ein Fortschritt im Gang der menschlichen Zivilisation: Das Datum markiert die Erfindung des Sozialstaats. Unter dem Schleier des Nichtwissens weiß keiner, was das Schicksal mit ihm vorhat, muss jeder damit rechnen, er könnte bei den Verlierern einsortiert werden; er wird aus egoistischen Motiven bereit sein, seinen Solidarbeitrag zu zahlen, wird doch im Schadensfall auch ihm selbst Solidarität zuteil werden.
Ludger Schuknecht, Chefökonom (Leiter der Grundsatzabteilung) im Hause von Wolfgang Schäuble und zuvor lange Jahre in maßgeblicher Position bei der EZB, hat jetzt in einem bemerkenswerten (noch unveröffentlichten) Paper (dessen Thesen nicht zwingend die seines Ministers sein müssen) gezeigt, wie die Staaten das Versicherungsprinzip weit über den seit Bismarck überkommenen Bereich der Sozialversicherungen hinaus gedehnt haben. Dass es inzwischen zu einer exzessiven und gefährlichen Verschuldung der Wohlfahrtsstaaten gekommen ist, liegt an einem Common Pool-Problem, das darauf zurück zu führen ist, dass wir alle Unwägbarkeiten des Lebens als versicherbare Risiken behandeln, und wir bei Eintritt des Schadens vom Staat heraus gepakt werden wollen. Schuknecht fragt: Has insurance gone too far? Und er lässt keinen Zweifel daran, dass man die Frage mit Ja beantworten muss. Wir leben in einer Allversicherungsgesellschaft (einem Vollkaskostaat). Man sieht das am dramatischen Anwachsen der Staatsausgaben und der daraus resultierenden Folge der Staatsverschuldung. Während sich vom späten 19. Jahrhundert bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs die Staaten mit einer „Versicherungsprämie” von zehn Prozent des BIPs begnügten, werden heute Prämien (Staatsausgaben) von bis zu 50 Prozent fällig (das kann man nachlesen bei Vito Tanzi/Ludger Schuknecht: Public Spending in the 20th Century. Cambridge 2000).
Schuknechts Beispiele für die Allgegenwart des Versicherungsprinzips sind eindrucksvoll: Zu den klassischen Sozialversicherungen (inklusive Pflegeversicherung), die horrende Ansprüche einer alternden Gesellschaft generieren, kommt heute die öffentliche Versicherung vieler Branchen (vulgo: Subventionen): das reicht vom Bergbau bis zur Solarindustrie, deren Preise von der Versichertengemeinschaft (vulgo: heutige und künftige Steuerzahler) garantiert werden. In den vergangenen Jahren hat es sogar die Bankenindustrie geschafft, unter den Schirm staatlicher Versicherung zu schlüpfen. Mit der Drohung des Too big to fail ist es dem Finanzsektor gelungen, die Krise als Schadens- also Versicherungsfall darzustellen, der von der Allgemeinheit getragen werden muss. Als Versicherungsfall gedeutet, hat sich der Bankensektor darum gedrückt, die Haftung (vulgo: Kosten) für sein Handeln zu übernehmen.
Mehr noch: Es wird inzwischen auch erwartet, das die gesamtgesellschaftliche Nachfrage staatlich abgesichert wird. Wenn der Konsum der Bürger sich abschwächt, greift die staatliche Fiskalpolitik als Kompensator ein. Am Ende verlangen Staaten und Regionen Versicherungsleistungen, und zwar selbst dann, wenn sie durch selbst verschuldetes Handeln (was dem Prinzip der Versicherung eigentlich widerspricht, was die Staaten deshalb auch leugnen) in einer Notlage gelandet sind: ESM oder ESFM heißen diese neu aufgespannten Versicherungsschirme.
Wenn sich die staatliche Versicherungsgesellschaft übernimmt, müssen die Zentralbanken als „insurer of last resort” (Schuknecht: „or lender of last resort as it ist more kindly called”) ran. Diese Art der Rückversicherung ist nicht risikofrei. Man sieht das an den seit der Finanzkrise aufgeblähten Bilanzen der Zentralbanken.
Auch ein Blick auf die Verteilung der Prämienlasten ist lehrreich dafür, dass das Versicherungsprinzip grob ungerecht geworden ist. Längst ist klar, dass nicht die Armen (die vom Schicksal Vernachlässigten) am meisten von der kollektiven Versicherung profitieren. Inzwischen profitieren auch die Mittelschichten, die sich aber (über undurchschaubare Kanäle) ihre Entschädigung selbst finanzieren. Mit Blick auf die Versicherung einzelner Branche gilt: Raus gepaukt werden die Reichen (die Kapitalisten), während die Steuerzahler (in der Regel Arbeitnehmer) dafür die Prämien zahlen. Kein Wunder, dass die Lobbyisten der Industrie (Banken, Energie etc.) derart aktiv unterwegs sind und von der staatlichen Rettungspolitik so begeistert sind.
Schuknecht schließt: Sozialversicherung (in dem hier gebrauchten weiten Sinn) ist der Haupttreiber wachsender Staatsausgaben und anschwellender Staatsdefizite. Was ursprünglich zur Linderung kollektiver Risiken gedacht war, ist inzwischen zu einem immensen Risiko für die entwickelten Wohlfahrtsstaaten geworden.