Der „Multiplikator” klingt eigentlich nach einer sehr technischen, eher langweiligen Größe. Aber davon hängt das Schicksal von vielen Millionen Europäern ab: Es geht um die Frage, ob die Krisenländer mit ihrem Konsolidierungskurs in einer Spirale aus Rezession und Schulden versinken oder ob ihnen die Sanierung ihrer Staatsfinanzen und die Erholung ihrer Volkswirtschaften gelingt. Das hängt davon ab, wie groß der „Multiplikator” von Staatsausgabenänderungen ist. Makroökonomen rätselt und streiten schon seit Jahrzehnten darüber. In der aktuell brenzligen Situation ist aber ein regelrechter Krieg um den richtigen Multiplikatorwert ausgebrochen.
Angefeuert wurde dieser Krieg vor drei Monaten durch einen kleinen Kasten im „World Economic Outlook” des Internationalen Währungsfonds (IWF). Mit nur drei Seiten Text (S. 41ff.), einer Tabelle und ein paar Grafiken vollzog der IWF dort eine spektakuläre Wende: Man habe den kurzfristigen Multiplikator bislang systematisch unterschätzt. Deshalb habe man die Stärke des wirtschaftlichen Einbruchs in Staaten mit harten Konsolidierungsprogrammen (Sparen und Steuererhöhen) nicht kommen sehen. Hinter dem Kasten stand IWF-Chefvolkswirt Olivier Blanchard, der als Neo-Keynesianer bekannt ist. Seine Stoßrichtung: Die Krisenländer sollten einen weniger scharfen Sparkurs fahren, sonst stürze ihre Konjunktur ab.
Mit seiner überraschenden Aussage zum angeblich viel größeren Multiplikator hat der IWF andere Institutionen bis aufs Blut gereizt, die den strikten Konsolidierungskurs nach wie vor verteidigen. Die EU-Kommission und die Europäische Zentralbank schossen sogleich mit einer Studie zurück (siehe EZB-Monatsbericht Dezember, S. 90ff.), die sich gegen die „extreme Ansicht” wandte, dass der Multiplikator so groß sei, dass ein Sparkurs quasi selbstzerstörerisch sei, weil die Wirtschaft immer stärker einbreche.
Worum geht es genau bei dem ominöse Multiplikator? Der technische Parameter zeigt an, um wie viel das Bruttoinlandsprodukt steigt oder sinkt, wenn der Staat seine Ausgaben um einen Euro erhöht oder kürzt. Der Multiplikator drückt in gewisser Weise die Hebelwirkung von Staatsausgaben aus. Ein großer Wert von mehr als 1 bedeutet, dass die Wirtschaft auf Ausgabenerhöhungen (-Kürzungen) stark positiv (negativ) reagiert. Ein kleiner Multiplikatorwert unter 1 sagt dagegen, dass Staatsausgaben die Konjunktur weniger stark bewegen.
Dahinter stecken makroökonomische Überlegungen, die als erste die Keynesianer anstellten: Eine Geldeinheit, die der Staat in den Wirtschaftskreislauf schleust, zirkuliert dort. Wird sie mehrfach weitergereicht und regt ein Staatsauftrag noch weitere Aufträge in der Privatwirtschaft an, dann ist der Multiplikator groß. So erwarten es die Anhänger des britischen Ökonomen John Maynard Keynes (1883 bis 1946), die große Hoffnung auf eine staatliche Stimulierung der Konjunktur setzten.
Es ist aber durchaus denkbar, dass die Privatwirtschaft auch in der entgegengesetzten Richtung der Staatsausgaben reagiert: Beschließt der Staat zu hohe defizit-finanzierte Ausgaben, erwarten Unternehmer und Bürger künftige Steuererhöhungen. Mit blick auf den steigenden Schuldenberg werden sie also vorausschauend ihre Ausgaben drosseln, sie werden weniger investieren und weniger arbeiten, weil sie die Steuer fürchten. Das schwächt die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Also regt der staatlichen Impuls die Wirtschaftsleistung nur schwach an. Der Multiplikator wäre also weniger als 1.
Nach dem Krieg bis in die siebziger Jahre, als der Keynesianismus en vogue war, hatten die meisten Ökonomen sehr hohe Erwartungen an den Multiplikator. Nach den enttäuschenden Erfahrungen mit den Konjunkturprogrammen der siebziger Jahre, die nur beschleunigte Inflation, aber keine Wirtschaftsbelebung brachten, nahm die Ökonomenzunft das Konzept kritischer unter die Lupe. Nun wurde die Rolle der Erwartungen betont: Im Idealfall kann es sogar bedeuten, dass staatliche Sparbemühungen die Wirtschaft nicht abwürgen, sondern anregen, weil die Unternehmen und Bürger künftig niedrigere Steuern erwarten.
Über viele Jahre galt daraufhin als neuer Konsens: Der Multiplikator ist eher klein. Als die amerikanischen Präsidentenberater Christina Romer und David Romer für Obamas Konjunkturpaket einen Multiplikator von 1,5 behaupteten, sprach der Makroökonom Robert Barro von „Voodo-Multiplikatoren”.
Noch im Frühjahr 2012 hat der IWF in seinem „Fiskal Monitor” mit Hinweis auf eine breite Literatur die mittlere Schätzung für den Multiplikator in Amerika mit 0,7 und in Europa mit nur 0,5 angegeben. In Europa ist er niedriger, weil die hiesigen Volkswirtschaften offener sind. Allerdings seien die Wirkungen von Konjunkturprogrammen in Krisen- und Rezessionszeiten wohl etwas höher, schrieb der Fonds.
Mit dem Kasten im World Economic Outlook vom Oktober hat er aber eine spektakuläre Wende vollzogen. Die „tatsächlichen Multiplikatoren sind vielleicht höher, in der Spanne von 0,9 bis 1,7″, heißt es dort. Zu der Erkenntnis sei man gekommen, als man nach den Gründen für die eigenen, krassen Fehler in den Wachstumsprognosen der vergangenen Jahre gesucht habe. Man habe die negative Wirkung der Ausgabenkürzungen und Konsolidierungspläne auf die Konjunktur unterschätzt, hätte man einen höheren Multiplikator unterstellt, dann lägen die Prognosen näher an der tatsächlichen Entwicklung.
Den schlimmsten Prognoseirrtum hat sich der IWF für Griechenland geleistet. Für die Jahre 2010 und 2011 lag man dort kumuliert um 7 Prozentpunkte daneben. Um so viel brach die griechische Wirtschaft schwerer ein als vorhergesagt. Aber lag das nur am „aggressiven fiskalischen Konsolidierungsplan”? Einige Ökonomen wie etwa Volker Wieland betonen eher die Rolle der Unsicherheit: Über lange Zeit gab es eine so große Verunsicherung über den wirtschaftspolitischen Kurs, dass dies jeglichen Mut von Investoren zerstört habe. Aus dem Prognosefehler könne man nicht zwingend auf einen höheren Multiplikator schließen.
Im Januar hat IWF-Chefvolkswirt Blanchard mit einem Ko-Autor, Daniel Leigh, noch ein 43-seitiges IWF-Arbeitspapier nachgeschoben, das seine Argumente untermauern soll. „Über dieses Working Paper sollte nicht berichtet werden, dass es die Ansichten des IWF repräsentiere” steht gleich an Anfang. Trotz dieses üblichen Hinweises geschieht dies aber schon. Blanchard ist dafür bekannt, sich mit gewagten Ansichten aus dem Fenster zu lehnen. Vor drei Jahren schrieb er in einem Aufsehen erregenden Paper, ob man es nicht angesichts der Krise mit mehr Inflation versuchen wolle. Vielleicht seien 4 Prozent Inflation besser als ein Ziel von 2 Prozent. Man sollte die Vor- und Nachteile einmal studieren.
Auch damals war die Europäische Zentralbank alles andere als begeistert. Auf den neuesten Vorstoß Blanchards reagierte sie schon Dezember-Monatsbericht mit einer scharfen Replik. Es sei falsch, den Blick auf den kurzfristigen Multiplikator zu verengen, heißt es dort. Eine „gut ausgestalte Haushaltskonsolidierung” der Krisenländer werde sehr wohl zu einer dauerhaften, strukturellen Verbesserung ihrer Staatsfinanzen und der Wirtschaft führen.
Die EZB, die sich auf eine aktuelle Studie von Ökonomen der EU-Kommission stützt, betonen dabei vor allem einen Punkt: die Glaubwürdigkeit der Politik. Wenn für die Bürger eines Krisenlandes klar sei, dass der Konsolidierungskurs durchgehalten werde, dann stellten sie sich innerlich auf eine bessere Zukunft ein, auch wenn die aktuelle Rezession schmerzhaft ist. Würde das Haushaltsloch glaubwürdig geschlossen und sei der Schuldenabbau oberste Priorität, ergäben sich nach einigen Jahren Spielräume für Steuersenkungen. Diese Aussicht könne schon in der Krise etwas beleben und die Erholung beschleunigen. Allerdings können Bürger ihren Konsum nur “glätten”, also auch bei Einkommensverlusten in Erwartung einer künftigen Erholung weiterkonsumieren, wenn sie nicht “kreditbeschränkt” sind, wie es in der Ökonomen-Sprache heißt, also wenn sie ihr Konto temporär überziehen können. Je mehr kreditbeschränkte Bürger es gibt, desto stärker hängt ihr Konsum vom aktuellen Einkommen ab.
Die EZB betont noch einen zweiten Punkt: die Risikoaufschläge auf Staatsanleihen der Krisenländer. Diese waren zwischenzeitlich auf ein gefährlich hohes Niveau gestiegen, Banken mit vielen Staatsanleihen waren in Bedrängnis geraten. Damit hatten sich auch andere Kreditkosten für Unternehmen verschärft, was die Wirtschaft noch mehr belastet hat. Ein glaubwürdiger strikter Konsolidierungskurs sei unerlässlich, um die Risikoprämien wieder zu senken – und das ist die Voraussetzung dafür, dass die Rezession nicht weiter eskaliert, sondern eine Erholung beginnen kann.
Wie man es dreht und wendet: Angesichts der brenzlichen Schuldenkrise führt an einem Konsolidierungskurs kein Weg vorbei, will man keinen Staatsbankrott riskieren. Nach Ansicht der EU- und der EZB-Ökonomen haben Kürzungen bei „unproduktiven Ausgaben” – und dazu zählen sie vor allem Transferzahlungen – nur kurzfristig einen negativen Konjunktureffekt, also einen hohen negativen Multiplikator, der sogar über 1 liegen könne. Auf Dauer tue es einer Volkswirtschaft aber gut, wenn zu viel Transfers und Umverteilung vermieden und die Steuern gesenkt werden. Dann drehe sich der Multiplikator sogar um. Weniger Staat ist mehr Wirtschaftsleistung.
Der Beitrag ist eine längere Fassung des “Sonntagsökonoms” aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 3. Februar. Die Illustration stammt von Alfons Holtgreve.