1. Ja: Ungleichheit ist eine Krisenursache
Der bekannteste Vertreter dieser Ansicht ist der Chicago-Ökonom Raghuram Rajan, der sie in seinem Buch “Fault Lines” (in Deutsch erschienen unter dem Titel “Verwerfungen“), einem der verbreitetsten Krisenbücher, ausgearbeitet hat.
Rajans Argumentation bezieht sich auf die im Jahre 2007 in den Vereinigten Staaten von Amerika ausgebrochene Finanzkrise und geht vereinfacht so: Weil es in den Vereinigten Staaten keinen gut ausgebauten Wohlfahrtsstaat, aber erhebliche Unterschiede zwischen Arm und Reich gibt, ist für die Politik ein Anreiz entstanden, durch expansive makroökonomische Politik (Geld- und Finanzpolitik) die Konjunktur und damit den Arbeitsmarkt auf Touren zu halten – damit wurde zwar für die Armen Arbeit geschaffen (wenn auch überwiegend schlecht bezahlte), aber besonders die Superreichen waren die wichtigsten Profiteure des Booms der Wirtschaft und der Finanzmärkte. Ebenso gab es Anreize, den armen Wählern die Möglichkeit des kreditfinanzierten Erwerbs eines Hauses zu eröffnen. Durch diese Anreize wurde lange Zeit eine unsolide Politik betrieben, die sich in der im Jahre 2007 ausgebrochenen Krise entlud.
In einem Interview mit FAZIT sagte Rajan kürzlich:
“In den achtziger und neunziger Jahren – von der Reagan- bis zur Clinton-Ära – war die allgemeine Tendenz gegen Sozialtransfers und Steuern. Die zurückfallenden Bevölkerungsteile haben ihren Konsum zunehmend auf Pump finanziert. Jetzt sind ihre Kreditmöglichkeiten zusammengebrochen. Wir sehen jetzt in Teilen des politischen Spektrums eine Bewegung hin zu mehr Transfers, mehr Besteuerung der Reichen und mehr Umverteilung hin zum Rest.”
Rajan ist nicht der einzige Ökonom, der eine Verbindung zwischen einer erheblichen Zunahme der Ungleichheit der Einkommen in den Vereinigten Staaten und der wachsenden Fragilität des Finanzsystems konstatiert. Aus der Literatur sei an dieser Stelle nur eine häufiger zitierte Untersuchung von Kumhof/Rancière erwähnt, in der Parallelen zur Entwicklung vor dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise in den dreißiger Jahren gezogen werden.
2. Nein: Es gibt keinen belastbaren Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Finanzkrisen
Michael Bordo und Christopher Meissner gelangen zu einem ganz anderen Schluss (hier ist ihre Originalarbeit und hier eine Zusammenfassung):
“While inequality is arguably problematic for many other reasons, we remain sceptical of claims that it engenders financial crises.”
Die Verfasser untersuchen für den Zeitraum von 1920 bis 2008 Finanzkrisen in 14 Ländern. Sie gehen von dem empirisch aus anderen Arbeiten gut dokumentierten Befund aus, dass Finanzkrisen gewöhnlich eine starke Kreditausweitung vorausgeht und gehen der Frage nach, welche ökonomischen Größen empirisch die Kreditausweitung begründen. Sie finden die traditionelle Ansicht bestätigt, wonach vor allem Wirtschaftswachstum und niedrige Zinsen das Kreditwachstum befördern, aber sie erkennen keinen bedeutsamen Einfluss wachsender Ungleichheit:
“…rising income concentration, measured by changes in the income share of the top 1% of tax units, plays no significant role in explaining credit growth….While inequality often ticks upwards in the expansionary phase of the business cycle, this factor does not appear to be a significant determinant of credit growth once we condition on other macroeconomic aggregates.”
3. Koinzidenz, aber nicht zwingend Kausalität: Das Bild ist nicht klar
Die Verteilungsökonomen Thomas Piketty und Emmanuel Saez warnen in ihrer Arbeit, die Grundlage unseres ersten Beitrags in der Reihe über Verteilungsökonomik war, vor vorschnellen Folgerungen:
“That is, a booming stock market contributes both to the rise of top incomes (in particular via capital gains, which were very large both in the 1920s and in the 2000s) and to the rise of financial fragility – but this does not imply that there is causal relationship between rising inequality and financial fragility. Modern financial systems are very fragile and can probably crash by themselves – even without rising inequality.”
Steigende Ungleichheit kann zur Fragilität des Finanzsystems beitragen, muss aber nicht. Im konkreten Fall tat sie dies wohl in den Vereinigten Staaten:
“This does not imply that rising inequality played no role at all. In our view it is highly plausible that rising top incomes did contribute to exacerbate financial fragility. The fact that household debt rose so much and so fast in the US during the 1990s-2000s (especially in the 2000s) and that the crash eventually occurred in the US rather than in Europe is probably not a coincidence.”
Aber die Krise hat nicht nur die Vereinigten Staaten erfasst, sondern auch Europa, wo die Ungleichheit weniger stark zugenommen hat:
“Yet we feel that it would be a mistake to put too much emphasis on the top incomes/financial fragility channel, first because rising top income shares would matter a lot even without such a channel (simply because inequality has a large impact on aggregate social welfare), and next because there are other mechanisms leading to financial fragility. There was limited rise of top income shares in Europe – and yet the financial system has clearly become more fragile over time. The rise of financial globalization and the exponential size of banking sector balance sheets have occurred pretty much everywhere and seen to bear little relationship with rising inequality.”
Es lassen sich auch spezifisch europäische Beobachtungen machen:
“In particular, it is striking to see that the rise of aggregate private wealth/national income ratios has been particularly strong in Europe.”
Das führen Piketty/Saez in ihrer Untersuchung weiter aus. Ihre Schlussfolgerung lautet, dass es Bedarf an weiteren Arbeiten gibt:
“We certainly do not claim that the rise of wealth-income ratio the key mechanism behind financial fragility. At a more modest level, we simply mean to suggest that this important evolution has clearly little to do with the rise of top income shares (it follows for the most part a different economic mechanism and involves different countries), and might also have played a role to exacerbate fragility. Of course both mechanisms can very much reinforce each other.”
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Teil 1 unserer Reihe, der unter anderem Grafiken zur Entwicklung der Ungleichheit in den Vereinigten Staaten und in Deutschland bringt:
Die Reichen werden wirklich immer reicher. Aktuelles zur Verteilungsökonomik (1)