An den Kapitalmärkten denken viele Menschen wirklich global: So fragt man sich dort seit einiger Zeit, ob Australien von der „Holländischen Krankheit“ ergriffen worden ist. Als „Holländische Krankheit“ bezeichnen Ökonomen ein Phänomen, das in den Niederlanden nach der Entdeckung eines großen Erdgasfeldes vor rund einem halben Jahrhundert beobachtet werden konnte. Der plötzliche und unerwartete Rohstoffreichtum sorgt für zusätzliche Einnahmen aus dem Ausland und damit für eine Aufwertung der eigenen Währung. Unter dieser Aufwertung leidet vor allem die exportorientierte hoch entwickelte Industrie des Landes.
Im Endeffekt gehen also Kapazitäten dort verloren, wo die Produktivität am höchsten ist, während die Rohstoffbranche und – über die zusätzlichen Einnahmen – auch die Binnenwirtschaft zunächst profitieren. Da aber sowohl die Rohstoffbranche als auch die Binnenwirtschaft meist weniger produktiv sind als die im internationalen Wettbewerb stehende Industrie, leidet langfristig das wirtschaftliche Wachstumspotential des Landes, wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Der plötzliche Rohstoffreichtum, der sich zunächst als wirtschaftlicher Segen erwies, stellt sich auf längere Sicht als ein Geschenk mit bedenklichen Nebenwirkungen heraus.
Der Begriff der „Holländischen Krankheit“ wurde vor vielen Jahren von den Kollegen des englischen Wirtschaftsmagazins „The Economist“ geprägt, da nach der Entdeckung des großen Gasfeldes die Industrie in den Niederlanden eine schwere Zeit durchlitt. Der Begriff „Holländische Krankheit“ hat sich in Ökonomenzirkeln ausgebreitet, aber Untersuchungen belegen, dass es für die Krise der niederländischen Industrie auch andere Gründe gegeben haben mag als den plötzlichen Rohstoffreichtum.
Ganz eindeutig erscheint die Diagnose auch im Falle Australiens nicht. (Hier ist eine Analyse auch der Politikoptionen.) Natürlich hat die australische Rohstoffbranche in den vergangenen Jahren erheblich von der starken Nachfrage vor allem aus China profitiert; nicht zufällig sind in Australien mit BHP Billiton und Rio Tinto zwei der größten Minenkonzerne der Welt beheimatet. So ist es kein Wunder, dass am Devisenmarkt der australische Dollar seit dem Jahr 2000 gegenüber der führenden Währung der Welt, dem amerikanischen Dollar, in der Tendenz – bei vorübergehenden Schwankungen – an Wert gewonnen hat.
Richtig ist auch, dass die australische Industrie ebenso wie übrigens die Landwirtschaft seit langer Zeit Wettbewerbsfähigkeit verliert, aber wie im Falle der Niederlande erklärt sich dieser Niedergang möglicherweise nicht zwingend vor allem mit der Nachfrage nach Rohstoffen. Mit der „Holländischen Krankheit“ ist es wie mit vielen anderen ökonomischen Phänomenen: Sie klingt plausibel und es ist vermutlich in der Realität auch etwas daran richtig, aber als Alleinerklärung für einen grundlegenden strukturellen Wandel einer ganzen Wirtschaft wirkt sie etwas überfordert.
Nun sind die Niederlande und Australien reiche Nationen, in denen die Rohstoffbranche mit der Industrie im Wettbewerb stehen mag. Viele rohstoffreiche Länder zum Beispiel in Schwarzafrika, in Lateinamerika oder in Asien sind immer arm geblieben und haben niemals eine leistungsfähige Industrie entwickelt. Auch für arme Länder lässt sich die Frage stellen, ob ihr Rohstoffreichtum nicht zu ihrer Armut beigetragen hat: Ökonomen sprechen in einem solchen Falle von einem „Ressourcenfluch“. Auf diesem Gebiet existieren unterschiedliche Forschungsansätze, die zum Teil zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen gelangen, so dass von einem gesicherten Wissen noch nicht die Rede sein kann.
Der Ökonom Daron Acemoglu und der Politologe James Robinson haben in den vergangenen Wochen in ihrem Blog „Whynationsfail“ mehrere Erklärungsversuche zusammen getragen und einzuordnen versucht. Allen Erklärungsversuchen gemein ist das Bestreben, den Einfluss des Rohstoffreichtums auf die Effizienz des Staates zu untersuchen.
Eine Analyse stammt von dem iranischen Ökonomen Hossein Mahdavy. Sie wurde im Jahre 1970 veröffentlicht, als der Iran noch eine Monarchie und noch kein islamischer Staat war. Sein Argument lautete, dass Einnahmen aus Rohstoffgeschäften zu einem schwachen und ineffizienten Staat führen, weil dem Staat das Geld mühelos in die Kassen fließt, ohne dass er ein leistungsfähiges Steuersystem entwickeln muss. Acemoglu und Robinson haben mit einer ähnlichen Begründung vor wenigen Jahren die These aufgestellt, dass die spanischen Edelmetallfunde zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Lateinamerika die Effizienz des damaligen spanischen Staates und damit auf Dauer seine Machtstellung innerhalb Europas erschüttert hätten. Acemoglu und Robinson räumen aber auch ein, dass Mahdavys These noch für andere Länder getestet werden müsste.
Mehrere Arbeiten haben sich in den vergangenen Jahren mit der Frage befasst, ob Rohstoffreichtum und hier speziell ein Reichtum an Ölquellen in einem Land die Demokratisierung eher fördert oder verhindert. Hier gibt es unterschiedliche Ansichten. Ein Argument lautet, dass Ölreichtum in einem totalitären Staat die Demokratisierung eher verhindert. Die Argumentation geht so: Wegen des Ölreichtums haben die Machthaber besonders viel zu verlieren; schon alleine deshalb besitzen sie ein sehr großes Interesse, ihre Macht zu konservieren. Das reichlich fließende Geld aus dem Ölverkauf erleichtert ihnen zudem die Konservierung der Macht, da sie über die Mittel verfügen, Institutionen wie Polizei, Militär und Geheimdienste zu schmieren.
Diese Argumentation klingt sehr plausibel, aber sie stößt nach Ansicht von Acemoglu und Robinson auf ein Problem. Die vom Rohstoffreichtum zur Unterdrückung der Demokratie führende Kausalitätskette ist brüchig, weil es auch genügend arme Länder mit totalitären Machthabern, aber ohne bedeutende Einnahmen aus Rohstoffen gibt.
Und so existiert eine Gegenthese. Sie besagt: Rohstoffreichtum verhindert nicht die Demokratie, sondern kann sie sogar fördern. Hier lautet das Argument, dass die Machthaber mit den Einnahmen aus dem Rohstoffverkauf Sozialleistungen finanzieren können und sich auf diese Weise Wählerstimmen kaufen. Ohne Rohstoffeinnahmen müssten die Machthaber zur Finanzierung von Sozialleistungen die wenigen Reichen hoch besteuern, was möglicherweise einen Staatsstreich beförderte.
Schließlich verweisen Acemoglu und Robinson auf eine interessante Analyse ölreicher Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Demnach ist der Umgang mit den Ölkonzernen mitentscheidend für die seitherige politische und wirtschaftliche Entwicklung gewesen. Länder, die ihre Ölförderer verstaatlicht haben, bewegen sich in die Richtung von Mahdavys Iran im Jahre 1970: Der Staat kommt einfach an Geld und besitzt keinen Anreiz, besonders effizient zu arbeiten. Ohne einen effizienten Staat gedeiht die Wirtschaft aber meist nicht gut. Acemoglu/Robinson sind nach jahrelangen Untersuchungen zu dem Schluss gekommen, dass sich viele arme Länder mit großflächigen Reformen sehr schwer tun. In einer solchen Situation halten sie es für sinnvoll, zumindest die Rohstoffbranche effizient aufzustellen – und das heißt, sie vom Zugriff der Machthaber zu entfernen.
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Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Version eines Artikels, der als “Sonntagsökonom” in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen ist.