Wachstum ist anstrengend. Damit die Wirtschaft weiter zulegt, müssen wir ständig neue Ideen liefern. Mit verbesserten Technologien müssen wir in kürzerer Zeit immer mehr produzieren. Bloß nicht ausruhen, denn in einer schrumpfenden Bevölkerung hat jeder noch mehr zu leisten – sonst stagniert das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Wäre das denn so schlimm, fragen sich viele. Warum nicht einfach mal einen Gang zurückschalten?
Neoklassische Ökonomen halten solche Fragen für naiv. Damit eine Volkswirtschaft stabil bleibt, sagen sie, muss sie wachsen. Stillstand bedeute Rückschritt. Im Geldsystem wird der eingebaute Wachstumsmechanismus sichtbar: Wer Geld verleiht, verlangt dafür einen Zins. Aus 1000 verliehenen Euro werden so je nach Höhe des Zinses 1005 oder 1010 Euro. Der Differenzbetrag muss erwirtschaftet werden. Und das funktioniert – auf die gesamte Volkswirtschaft gesehen – nur bei positiven Wachstumsraten.
Und auch die Arbeitnehmer hätten bei Nullwachstum wenig zu lachen, sagen die tonangebenden Ökonomen. Steigt die Produktivität in Unternehmen von Jahr zu Jahr weiter, jedoch nicht die Menge der verkauften Produkte, dann schaffen die Arbeit auch weniger Menschen. Jedes Jahr aufs Neue müssten dann Arbeitskräfte vor die Tür gesetzt werden.
Es gibt Kritik an diesem angeblichen Wachstumszwang. Sie ist so vielstimmig, dass es schwerfällt einen Überblick zu behalten. Kirchen, Gewerkschaften, Umweltschützer, Nichtregierungsorganisationen und auch Ökonomen – sie alle sind irgendwie gegen Wachstum. Die einen fordern den Wachstumsstopp, weil nur so die natürlichen Ressourcen geschont werden könnten. Andere machen sich für regionale Wirtschaftskreisläufe, alternative Geldsysteme oder eine postmaterialistische Definition von Wohlstand stark. Und wieder andere wollen gleich das ganze System umstürzen.
Den Wachstumskritikern mangelt es nicht an kleinteiligen Ansätzen. Was sie jedoch bislang nicht hervorgebracht haben, ist der passende ökonomische Überbau für ihre Kritik. Es fehlt ein umfassendes makroökonomisches Alternativmodell, das darlegt, wie all das, was unter dem Schlagwort der “Nachhaltigkeit” gefordert wird, zusammengehen kann. Wie wirkt sich eine Abkehr vom Wachstum auf Preise, Schulden, Arbeitslosigkeit, Sozialleistungen und den Außenhandel aus? Und was bewahrt in einer Postwachstumsökonomie vor einer Abwärtsspirale?
Diese Fragen liegen auf der Hand. Umso erstaunlicher, dass sich bislang nur wenige wachstumsskeptische Ökonomen mit ihnen befasst haben. Sie bieten zwar “quantitative Informationen, die ihre Argumente unterstützen und illustrieren. Aber sie schufen nicht ihre eigenen ökonometrischen Modelle oder benutzten die von anderen, um ihre Thesen aufzustellen”, räumte der wachstumskritische Ökonom Peter Victor schon vor Jahren selbstkritisch ein. Und eine Kommission, die bis 2011 unter Leitung des Ökonomen Tim Jackson für die britische Regierung die Grenzen des Wachstums erforschte, kam zu dem Schluss: “Es gibt kein makroökonomisches Modell für Nachhaltigkeit, doch es besteht ein dringender Bedarf für ein solches.”
Dieser blinde Fleck ist auch deshalb verwunderlich, weil Wachstumsskepsis kein neues Phänomen ist. Zu den frühen Mahnern gehörten Thomas Malthus (1766-1834), John Stuart Mill (1806-1873) und John Maynard Keynes (1883-1946). Der viel beachtete und viel gescholtene Bericht des Club of Rome, der Wachstumskritik einst salonfähig gemacht hat, feierte im vergangenen Jahr schon seinen 40. Geburtstag.
Eine der wenigen Ausnahmen, die sich modellhaft an makroökonomischen Überlegungen versucht haben, ist der Kanadier Peter Victor (York University). Victor simuliert mit Hilfe von wirtschaftlichen Variablen, wie sie auch in neoklassischen Modellen verwendet werden, wie sich Arbeitslosigkeit, Armut, BIP pro Kopf, Verschuldungsquote und Treibhausgasemissionen in seinem Heimatland bis zum Jahr 2035 entwickeln – angenommen, die Wirtschaft wächst zuerst nur noch langsam, dann gar nicht mehr. Trotz des Verzichts könne die Arbeitslosen- und Armutsquote nach einem anfänglichen Anstieg unter das heutige Niveau sinken, kalkuliert Victor. Treibhausgasemissionen und selbst die Verschuldung verringerten sich um mehr als 30 Prozent. Möglich sei das durch politische Eingriffe: Unter anderem soll Arbeit durch kürzere Wochenarbeitszeit auf mehr Schultern umverteilt werden, der Staat soll mit Investitionen aktiver werden. Victors Simulationen wirken holzschnittartig und äußerst staatsgläubig, eine ernsthafte Debatte entfacht haben sie unter Ökonomen bis heute nicht.
In eine ähnliche Richtung zielt die in mehreren Ländern wachsende “Degrowth”-Bewegung, zu deren Vordenkern der frühere Weltbank-Ökonom Herman Daly gehört. Daly ist Verfechter der Idee eines “steady state”, einer Volkswirtschaft, die in einem bestimmten, als optimal betrachteten Zustand verharrt. Ist dieser Zustand erst einmal erreicht, soll es nur noch Effizienzsteigerungen, kein quantitatives Wachstum mehr geben. Zusammengenommen führe das zu weniger Ressourcenverbrauch. Das Kapital sei in einer solchen Welt weiter ein begehrtes Gut, der Zins falle nicht auf null, behauptet Daly. Arbeitsintensive Sektoren würden im “steady state” besonders profitieren, vor Massenarbeitslosigkeit müsse sich deshalb niemand fürchten. Auch dieser Ansatz setzt auf einen starken Staat und wirft mit jeder Antwort mindestens eine neue Frage auf: Wie soll etwa eine Explosion der Staatsschulden verhindert werden, wenn der Staat investiert, aber nicht wachsen darf? Nicht nur aus ökonomischer Perspektive hat der Entwurf bedenkliche Aspekte. Weil die Zahl der Arbeitskräfte in einem “steady state” konstant zu sein hat, schreckt Daly nicht davor zurück, Limits für Geburten zu erwägen. Sieht sie so aus, die bessere Gesellschaft, die sich so viele Wachstumskritiker erträumen?
Viele der etablierten makroökonomischen Modelle haben sich in der Finanzkrise als unzureichend entpuppt. Die Gelegenheit, an der Verbesserung bestehender Ansätze mitzuwirken oder mit Alternativen zu punkten, haben wachstumskritische Ökonomen vorerst verstreichen lassen.