Das Ambiente war idyllisch und harmonisch, die Worte der Kanzlerin waren alles andere als das: Ökonomen, die die Politik beraten, sollten „die Ehrlichkeit haben, die Fehlerquoten oder die Unschärfen anzugeben“, beschwerte sich Angela Merkel bei den Wirtschaftsnobelpreisträgern in Lindau am Bodensee. Von den Ökonomen wollte die Naturwissenschaftlerin mit Blick auf die Krise wissen, warum sie mit ihren Prognosen „so schwer neben der Realität“ gelegen haben.
Zwei Wochen später geben die Ökonomen eine Antwort nach dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“. Zum Start der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik (VfS) in Hamburg haben die Ökonomen ein Thesenpapier vorgelegt, in dem sie mehr Einfluss auf die Politik fordern. „Wissenschaftliche, evidenzbasierte Evaluierung von wirtschaftspolitischen Maßnahmen sollte systematischer Teil der Wirtschaftspolitik sein“ heißt es in dem sieben Punkte umfassenden Papier, das vom Vereinsvorsitzenden Michael Burda, seiner designierten Nachfolgerin Monika Schnitzer, dem Vorsitzenden des Sachverständigenrates, Christoph Schmidt, und Bernd Fitzenberger (Organisator der Tagung) verfasst wurde. Es sei „eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, wie dies in anderen Ländern bereits der Fall ist“. Ein Evaluierungsgesetz also, das den ökonomischen Praxistest in der Wirtschaftspolitik zur Pflicht macht. „Es gibt keinen Status quo für Gesetze“, sagte Burda dieser Zeitung. Der Staat gebe jedes Jahr Milliardenbeträge für wirtschaftspolitische Maßnahmen aus, frage aber erstaunlich wenig nach deren Wirksamkeit. „Wir Ökonomen“, so Burda, „müssen auf die Daten schauen und fragen, was funktioniert und was nicht.“ Auch der oberste „Wirtschaftsweise“ Schmidt fordert einen „Automatismus für die Evaluierung wirtschaftspolitischer Maßnahmen“.
Der Amerikaner Burda, der seit rund 20 Jahren an der Berliner Humboldt-Universität forscht, wird den Staffelstab an der Spitze der 1873 gegründeten Vereinigung deutschsprachiger Ökonomen zum Jahresende an die Münchener Volkswirtin Monika Schnitzer abgeben. Bevor er das tut, war es ihm ein Anliegen, die Konferenz, zu der in dieser Woche Hunderte Wirtschaftswissenschaftler strömen, unter das Motto „Evidenzbasierte Wirtschaftspolitik“ zu stellen – also eine Politik, die Wirkungsanalysen auf Grundlage harter Daten stärker beachtet. Als scheidender Vorsitzender sei diese Themensetzung gewissermaßen sein „letzter Schuss“.
Die Verfasser des Papiers stört, dass wirtschaftspolitische Diskussionen hierzulande zu ideologisch geführt würden, egal, ob es um den Mindestlohn, die Gesundheitspolitik oder Innovationen gehe. Die Debatte über die Ziele der Politik müsse stärker von der Debatte über die Wirksamkeit der Maßnahmen getrennt werden.
Es ist kein einfaches Unterfangen, zu messen, ob etwa der Mindestlohn Arbeitsplätze vernichtet oder nicht, gestehen die Forscher ein. Doch habe Deutschland „eine hervorragende Basis für eine Kultur der Evidenzbasierung von Politik und wirtschaftspolitischer Beratung“, schreibt Schmidt in einem in Kürze in den „Perspektiven der Wirtschaftspolitik“ erscheinenden Artikel. Der Forscher betont, dass die angewandte Forschung heute einiges leisten könne – es zugleich aber entscheidend sei, immer auch die Grenzen der Analysen aufzuzeigen. „Unsere Arbeit ist trotz der mit unseren Aussagen verbundenen Unsicherheit wichtig, weil wir dazu beitragen können, eine komplexe und von Unsicherheiten gekennzeichnete Welt in begrenztem Maße zu ordnen, ohne falsche Gewissheiten vorzutäuschen.“
Methodisch stehen die Forscher stets vor der Herausforderung, Ursache und Wirkung einer Maßnahme zu erkennen: Hat jemand einen Arbeitsplatz wegen des Mindestlohnes verloren, oder wäre es ihm auch ohne die Reform so ergangen? Ökonomen versuchen solche Fragen mit „kontrollierten Zufallsexperimenten“ und ausgeklügelten ökonometrischen Verfahren zu beantworten. Im Kern geht es dabei darum, in großen Datensätzen sich ähnelnde Personengruppen zu identifizieren, von denen nur ein Teil von einer Politikmaßnahme betroffen ist. Um sogenannte statistische Zwillinge zu finden, werten zum Beispiel Arbeitsmarktökonomen heute nicht nur das Alter und den Beruf von Personen aus, sondern auch berufliche Erfahrungen und persönliche Vorgeschichten. Damit die Ergebnisse transparent sind, sollen Ökonomen ihre Datensätze auch allen anderen Forschern zugänglich machen, schreiben die Autoren des Thesenpapiers.
Während der Jahrestagung in Hamburg werden einige der international renommiertesten empirisch arbeitenden Ökonomen ihre Arbeiten präsentieren. Der britische Ökonom Richard Blundell (University College London) hat in seinem Heimatland die Wirtschaftsreformen Ende der neunziger Jahre untersucht und wird darüber sprechen, wie empirische Evidenz bei der Gestaltung des Bildungs- und Steuersystems sowie des Arbeitsmarktes helfen kann. Der amerikanische Gesundheitsökonom Thomas MaCurdy (Stanford-University) wird referieren, wie sich bestimmte Entlohnungssysteme im Gesundheitssystem auf die Gesamtkosten auswirken. Und das Frankfurter Mitglied im Sachverständigenrat Volker Wieland (Goethe Universität) wird auf der Tagung einen Ansatz für die Analyse gesamtwirtschaftlicher Zusammenhänge präsentieren, aus dem sich empirisch belastbare Politikempfehlungen ableiten lassen können sollen, zum Beispiel für die Geldpolitik.
Die Frage der Kanzlerin, warum die meisten Forscher vor der Krise weit danebengelegen haben, ist damit zwar nur zum Teil beantwortet. Fest steht aber, dass die Regierung angesichts der demnächst greifbar werdenden Reformen – vom Mindestlohn bis zur Rente mit 63 – den sicher nicht ganz selbstlosen Vorstoß der Forscher nicht einfach ignorieren sollte.