Wer verstehen will, wie Deutschlands Geld zwischen Armen und Reichen verteilt wird, der hat es nicht leicht. Mal heißt es: Die Schere geht auseinander, dann heißt es wieder: „Die Armen finden viele neue Jobs und werden reicher.“ Was stimmt denn jetzt? Darauf gibt es eine Antwort. Wenn man genau hinguckt, findet sich zwischen den vielen widersprüchlichen Meldungen ein relativ einfacher Konsens.
Weltweit steigen in den meisten Ländern schon seit mehr als 20 Jahren die Einkommen der Reichen schneller als die der Armen. Dafür werden vor allem zwei Gründe genannt. Der erste Grund ist der technische Fortschritt. Neue Entwicklungen machen manche Arbeit überflüssig, vor allem Routinearbeit und Stellen für schlecht qualifizierte Leute. Dort kommen die Einkommen unter Druck. Auf der anderen Seite aber entstehen neue Stellen, für die man technisch qualifiziert sein muss – die gebildeten und einkommensstarken Mitarbeiter werden umso gefragter.
Der zweite Grund ist die Globalisierung. Die Welt wächst immer weiter zusammen, Grenzen werden immer häufiger überschritten – also ähneln sich auch die Armen und die Reichen auf der Welt immer stärker. Reich zu sein, bedeutet heute in China ungefähr das Gleiche wie in Amerika. Deshalb sind die Differenzen innerhalb der Länder gewachsen.
Heute messen die Statistiker in jedem Land einzeln, dass die Ungleichheit in jenem Land wächst. Wirft man aber die Länder wieder zusammen und betrachtet alle Weltbürger gemeinsam, dann schrumpft der Abstand zwischen Arm und Reich wahrscheinlich.
Der Arbeitsmarkt ist nicht alleine Schuld
Deutschland hatte es in den vergangenen Jahren besonders gut. Seit 2006 sind die Einkommen der Armen schneller gewachsen als die der Reichen. Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ist die Ungleichheit jahrelang zurückgegangen, ohne allerdings den Wert aus dem Jahr 2000 wieder zu erreichen. Gemessen wird das Ganze mit dem sogenannten „Gini-Index“, der den Wert eins bekommt, wenn einer das ganze Einkommen hat, und den Wert null, wenn alle das Gleiche bekommen. So werden alle Entwicklungen bei Armen und Reichen gleichzeitig zu einer Zahl verdichtet.
Weil die Trendwende ausgerechnet im Jahr 2006 kam, ungefähr gleichzeitig mit der Einführung der Hartz-Reformen und dem Beginn des Arbeitsmarkt-Wunders, galt lange der gute Arbeitsmarkt in Deutschland als wahrscheinlichster Grund. Es leuchtet ja auch ein: Viele Arbeitslose bekamen Stellen, verdienten mehr – da profitierten in den vergangenen Jahren viele Arme. Doch eine neue Untersuchung sagt: Der Arbeitsmarkt spielt nur eine kleine Rolle.
Die Rechnung stammt von gewerkschaftsnahen Autoren: Miriam Rehm arbeitet bei der Arbeiterkammer in Österreich, Kai Daniel Schmid beim Institut für Makroökonomik und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung, Dieter Wang studiert in Tübingen. Sie gucken sich an, wie sich die einzelnen Einkommensarten entwickelt haben. Und stellen fest: Das Arbeitseinkommen der Deutschen ist zwar in den Jahren des besseren Arbeitsmarkts nicht mehr ungleicher geworden und hat so Deutschland schon mal vom internationalen Trend gelöst, angeglichen haben sich die Arbeitseinkommen aber auch nicht. Deshalb kann der Arbeitsmarkt nur einen Teil der Annäherung von Arm und Reich erklären.
Entscheidender ist, dass die Kapitaleinkommen sich angenähert haben: Mieteinkünfte, Zinsen, Dividenden und so weiter. Eine vollständige Erklärung dafür haben sie noch nicht. Der Trend beginnt ja schon im Jahr 2006. Sicher ist: Von 2008 an haben die Kursstürze an der Börse wegen Finanz- und Eurokrise die Reichen viel Geld gekostet.
Die Armen müssen reicher werden, nicht die Reichen ärmer
Wenn die Reichen ärmer werden, bringt das die Einkommensschichten auch wieder zueinander – der beste Weg ist das trotzdem nicht. Das macht nicht nur arm, sondern es ist auch nicht gut für das Wachstum in der Zukunft.
Dazu hat ein Ökonom der Industrieländer-Organisation OECD gerade erst genauere Daten geliefert. Federico Cingano hat zwar ausgerechnet, dass hohe Ungleichheit auch in Industrieländern auf das Wachstum schlägt. Dafür ist aber nicht entscheidend, ob die Reichen mehr Geld haben als die Mittelschicht – das bleibt eine Neiddebatte. Das Wirtschaftswachstum verbessert sich dann, wenn die Armen aus ihrer Armut herauskommen und sich der Mittelschicht annähern.
Und wie geht es jetzt weiter? Was die Armen angeht, wird das von der weiteren Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt abhängen. Wenn die weiter so gut bleibt wie in den vergangenen Jahren, dann könnten die Armen mindestens den Anschluss an die Reichen halten.
Trotzdem ist nicht gesagt, dass auch der Gini-Index in Deutschland weiter sinkt. Wenn tatsächlich die Kapitaleinkommen der Grund für die zunehmende Gleichheit waren, könnte der Trend bald wieder enden. Denn in den vergangenen Jahren sind die Aktienkurse wieder heftig gestiegen. Auch die Gesamt-Ungleichheit ist im Jahr 2012 wieder nach oben gezuckt. Aber nichts ist sicher. Denn die Zinsen weisen in die Gegenrichtung. Sie sind so niedrig wie kaum je zuvor in der Geschichte. Das trifft eher diejenigen, die überhaupt etwas gespart haben, und das ist ungefähr die reichere Hälfte Deutschlands.
Eine Bonusfrage für die Fazit-Leser: Beim DIW sinkt der Gini-Koeffizient seit 2006, bei Rehm/Schmid/Wang stagniert der Koeffizient nur. Das DIW bezieht seine Zahlen auf äquivalenzgewichtete Nettoeinkommen, berücksichtigt also, wie viele Menschen in einem Haushalt leben. Zudem berücksichtigt es private Transfers. Hat jemand eine Idee, wie Haushaltsgrößen oder private Transfers zur Senkung der Einkommens-Ungleichheit beitragen können?
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