Studierende fordern eine Reform der Volkswirtschaftslehre. Warum sie dabei nicht auf ein Nebeneinander der Denkschulen setzen sollten – sondern auf die Suche nach Konsens. Ein Gastbeitrag von Jonas Bausch und David Kunst
Rückblende ins Jahr 2009: Das Platzen der amerikanischen Immobilienpreisblase hat die Welt in eine schwere Rezession gestürzt, das deutsche Bruttoinlandsprodukt schrumpft so stark wie noch nie in der Nachkriegszeit. Dabei hatten namhafte Ökonomen behauptet, Rezepte für die Vermeidung von Wirtschaftskrisen gefunden zu haben. Aus Unzufriedenheit mit der Volkswirtschaftslehre fordern Studierende weltweit einen Neustart des Faches und organisieren Ringvorlesungen, in denen alternative Wirtschaftstheorien vorgestellt werden. Doch sechs Jahre später hat sich am Kern des VWL-Studiums wenig geändert, die Revolution ist ausgeblieben. Und bei aller berechtigten Kritik: das ist auch gut so.
Der zentrale Vorwurf vieler Studierender lautet, dass in ihrem Studium nur die am weitesten verbreiteten Theorien gelehrt werden und alternative Ansätze unter den Tisch fallen. So fordert die „Internationale Studierendeninitiative für Pluralismus in der Volkswirtschaftslehre“, in der sich im vergangenen Jahr 65 Protestgruppen zusammengeschlossen haben, dass in den Lehrplänen Platz für die klassische, marxistische, österreichische, feministische, ökologische und institutionelle Variante der Volkswirtschaftslehre geschaffen wird.
Solange das im Rahmen von Seminaren geschieht, die in die Geschichte des ökonomischen Denkens einführen, ist das auch äußerst sinnvoll. Aus der Geschichte kann man schließlich viel lernen. Doch denkt man die Forderungen vieler Kritiker konsequent zu Ende, droht die Zersplitterung der Volkswirtschaftslehre: Für marxistische Ökonomen ist zum Beispiel der Historische Materialismus Ausgangspunkt ihrer Analysen – aus der Perspektive der anderen Denkschulen kaum anschlussfähig. Die Verständigung scheitert also oft schon, weil Denkschulen die zentralen Ergebnisse ihrer Analysen bereits auf den Lippen tragen.
Doch intellektuelle Kleinstaaterei kann niemand wollen. Gerade eine empirische Wissenschaft wie die Volkswirtschaftslehre benötigt einen ergebnisoffenen Dialog, will sie die Politik kompetent beraten. Dabei sind jedoch Versammlungen um die Lagerfeuer verschiedener Denkschulen nicht förderlich. Statt vorurteilsfreien Austauschs fände man dort unproduktive Abgrenzungsdebatten, statt eines Wettstreits um die besten Ideen bekämen wir akademisches Eigenbrötlertum im Übermaß.
Ein Blick über den Atlantik zeigt, worum es in der Reformdebatte stattdessen gehen sollte: Dort löste Paul Romer, Professor an der New York University, kürzlich mit einem Fachartikel eine kontroverse Debatte aus.1) Der für den Nobelpreis gehandelte Makroökonom kritisiert darin einen zunehmend unsauberen Umgang mit mathematischen Modellen. Sein zentraler Vorwurf ist ein zu loser Zusammenhang zwischen mathematischen Herleitungen, verbalen Behauptungen und empirischen Beobachtungen in den Artikeln namhafter Kollegen. Bei diesem Phänomen, dem Romer das Label „Mathiness“ verleiht, handele es sich nicht um seriöse Forschung, sondern um das Vertreten von politischen Positionen unter dem Deckmantel der Wissenschaft.
Der New Yorker Professor teilt also den Eindruck vieler Studierender, dass Modelle teilweise als trojanisches Pferd benutzt werden, um politischen Meinungen einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben. Finden die Forderungen der Studierenden nun also Gehör innerhalb der Disziplin? Nein, denn das von den Studierendeninitiativen geforderte dauerhafte Nebeneinander von widersprüchlichen Erklärungsansätzen wäre für Paul Romer gleichbedeutend mit intellektuellem Stillstand. Für ihn ist Wissenschaft „der womöglich einzige soziale Prozess, der zu einem allgemein geteilten Konsens führt“. Und er hat Recht: Wir brauchen eine Volkswirtschaftslehre, die danach strebt, Meinungsverschiedenheiten auszuräumen, um dadurch die Welt Stück für Stück besser zu verstehen.
Zugegeben, die Volkswirtschaftslehre ist leider oft blind für neue Entwicklungen. So befasste sich im Vorfeld der Finanzkrise kaum jemand mit den Risiken des neu entstandenen Schattenbankensystems – mit fatalen Folgen. Das mahnt dazu, auch ungewöhnlichen Ideen Beachtung zu schenken. Doch die etablierte Volkswirtschaftslehre ist durchaus in der Lage, hilfreiche Politikempfehlungen zu geben, was sich gerade in der jüngsten Wirtschaftskrise gezeigt hat.
Wie Nobelpreisträger Paul Krugman regelmäßig in seinem Blog betont, waren die Vorhersagen des einfachen, in jedem Lehrbuch zu findenden Makro-Modells zutreffend: Vergleicht man die Volkswirtschaften in Europa, führten höhere Staatsausgaben in der Krise im Schnitt zu mehr Wachstum und Beschäftigung. Die unkonventionelle – aber enorm einflussreiche – Studie der Ökonomen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff, laut der Staatsverschuldung ab einer bestimmten Schwelle das Wirtschaftswachstum verringert, stellte sich hingegen als fehlerhaft heraus. Dass viele Regierungen ihre Länder durch Sparpolitik noch tiefer in die Rezession schickten lag unterm Strich viel mehr an politischen Vorfestlegungen als am Versagen der etablierten volkswirtschaftlichen Theorien.
Diese Erfahrung lehrt: Die Reform der Volkswirtschaftslehre darf nicht darauf abzielen, die Suche nach einem akademischen Konsens in wichtigen Fragen abzuschaffen. Eine Volkswirtschaftslehre der Denkschulen würde nämlich einen Rückzugsraum für empirisch widerlegte Argumente bieten. Noch stärker als bisher könnten sich Politiker einfach die Empfehlungen heraussuchen, die am besten zur eigenen politischen Agenda passen.
Stattdessen sollten Universitäten methodologische Reflexionen auf den Lehrplan setzen, sodass Professoren diskutieren, warum sie immer wieder mit bestimmten Annahmen arbeiten. Denn nur mit einem Bewusstsein für die Chancen und Risiken beim Hantieren mit mathematischen Modellen lässt sich erkennen, wenn Ökonomen oder Politiker die Wissenschaft vor den Karren ihrer ideologischen Botschaften spannen. Das aber gilt es zu verhindern, will die Volkswirtschaftslehre ihrer gesellschaftlichen Verantwortung in Zukunft besser gerecht werden.
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Jonas Bausch ist VWL-Student im Master am Tinbergen Institut in Amsterdam. Er studierte bisher VWL, Jura und Politik in Erfurt und Cambridge. David Kunst ist derzeit ebenfalls am Tinbergen Institut in Amsterdam. Er studierte davor internationale VWL in Tübingen und Toulouse.
1) Wir haben die Kritik Romers und die sich daran anschließende Debatte in FAZIT hier aufgenommen. (gb.)