In Deutschland gab es große Aufregung, als im Februar die Inflationsrate 2,2 Prozent erreichte. Der jüngste leichte Anstieg ändert aber nichts daran, dass in den Industrienationen die Inflationsrate seit längerer Zeit ungewöhnlich niedrig ist – vor allem in Anbetracht einer seit Jahren sehr expansiven Geldpolitik. Auch versierte Ökonomen tun sich mit einer Erklärung schwer. Wer löst das “Inflationsrätsel”, wie es David Folkerts-Landau, der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, in einem aktuellen Beitrag in der F.A.Z. nennt?
Eine kürzlich auf einer namhaften Konferenz in den Vereinigten Staaten vorgestellte empirische Arbeit stammt von einem Team, in dem sich akademische Ökonomen und Bankökonomen zusammengefunden haben. Sie fragt besonders, inwieweit die von der modernen makroökonomischen Theorie und den in ihrem Geiste argumentierenden Geldpolitikern besonders betonten Einflussfaktoren “Arbeitsmarkt” und “Inflationserwartungen” tatsächlich in der Lage waren, die amerikanische Inflationsrate über die vergangenen gut drei Jahrzehnte zu erklären.1) Das provozierende Ergebnis der Untersuchung lautet: Die vermeintlich wichtigen Einflüsse sind wenig bedeutend, unter anderem, weil die Geldpolitik zum Opfer ihres eigenen Erfolgs wird.
Die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit sind:
- Die Inflation der vergangenen drei Jahrzehnte lässt sich durch einen “einfachen und in hohem Maße nachhaltigen Prozess” erklären, den die Autoren als “lokalen Mittelwert” bezeichnen. Das heißt, die Inflation folgt einem langfristigen Verlauf, in dem sie sich kaum verändert; daran habe auch die Finanzkrise nichts geändert. Das heißt: Die beste Prognose der künftigen Inflationsrate besteht darin, die vergangene Inflationsrate einfach fortzuschreiben.2) Gegenwärtig sehen die Autoren diesen “lokalen Mittelwert” für den BIP-Preisdeflator in den Vereinigten Staaten bei rund 1,5 Prozent.
- Daraus folgt, dass die Fed in ihrer Geldpolitik Veränderungen am Arbeitsmarkt oder Veränderungen der Inflationserwartungen entgegen der Lehrbuchweisheit nicht zu Ernst nehmen sollte. Denn weder der Arbeitsmarkt noch die Inflationserwartungen wirken stark auf den Inflationstrend ein. Die von der Theorie zumindest kurzfristig thematisierte Wechselbeziehung von Arbeitsmarkt und Inflation (Phillips-Kurve) lässt sich nur in einem sehr geringen Maße nachweisen, so dass sie kaum in der Geldpolitik genutzt werden kann. Damit stünde die moderne Konzeption von Geldpolitik auf einem brüchigen Fundament.
- Warum versagen die aktuellen Lehrbuchweisheiten, so wie seit langem auch die alte Lehrbuchweisheit versagt, wonach die Inflation in enger Abhängigkeit von der Geldmenge (“Quantitätstheorie”) steht? Die Autoren verweisen auf ein Phänomen, das von manchen Ökonomen seit mehreren Jahren bearbeitet wird, aber wohl noch nicht allgemein akzeptiert ist: In einer Welt sehr niedriger Inflation sind die Zusammenhänge zwischen ökonomischen Größen offenbar anders als in einer Welt mit hohen Inflationsraten. Mit anderen Worten: Indem sie in einer Welt mir niedriger Inflation nicht mehr so gut funktioniert, wird die Geldpolitik ein Opfer ihrer Erfolge der vergangenen Jahrzehnte in der Inflationsbekämpfung. Den Autoren geht es auch gar nicht darum, die aktuelle Geldpolitik zu kritisieren, sie wollen statt dessen zu größerer Wirksamkeit beitragen.3)
- Die Autoren behaupten allerdings nicht, dass Geldpolitik keinen Einfluss auf die Inflationsrate mehr besitzt. Sie behaupten nur, dass die Konzepte der vergangenen Jahrzehnte fragwürdig sind. Beeinflussbar sei die Inflation durchaus, schreiben sie, und verweisen unter anderem auf Änderungen des Wechselkurses oder finanzielle Bedingungen4) wie die Verfügbarkeit von Krediten, die Unternehmen und Haushalte vorfinden. Die genauen Wirkungswege müssten aber noch analysiert werden.
Dass Geldpolitik in einem Umfeld sehr niedriger Zinssätze und Inflationsraten auf Widerstände stößt, ist auch Thema einer anderen aktuellen Arbeit aus der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ). Solche empirischen Untersuchungen sind sehr interessant, aber es ist Vorsicht vor zu weitreichenden Schlussfolgerungen angebracht. So weisen die Autoren der Arbeit aus den Vereinigten Staaten selbst darauf, dass sie in ihrem Untersuchungszeitraum keine Phase hatten, in der der amerikanische Arbeitsmarkt wirklich “heiß gelaufen” ist. In einem solchen Umfeld könne die Austauschbeziehung zwischen Arbeitsmarkt und Inflation (“Phillips-Kurve”) durchaus eine wichtigere Rolle spielen als in den vergangenen Jahren, schreiben sie. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich sowohl triumphale Abgesänge auf die Phillips-Kurve ebenso wie übertriebenes Vertrauen in die Phillips-Kurve als voreilig herausgestellt.
Erwähnenswert ist auch: Wenn die Analyse der Autoren richtig ist und ihre Ergebnisse auf den Euroraum übertragen werden könnten (dies müsste nachgeprüft werden), liegen alle falsch, die hier einen deutlichen und nachhaltigen Anstieg der Inflationsrate in nächster Zeit prophezeien.
- Zur Analyse der Inflation schauen die Autoren nicht auf das Preisniveau für Konsumgüter, wie es die Notenbanken üblicherweise tun, sondern auf das Preisniveau des gesamten Bruttoinlandsprodukts (BIP). Der sogenannte BIP-Deflator kann aus dem Quotienten von nominalem und realem Preisniveau des BIP errechnet werden. Bei diesem Vorgehen schaut man sich nicht nur die Konsumgüterpreise an, sondern Preise aus unterschiedlichen Branche einer Volkswirtschaft. Aus ökonomischer Sicht ist das ein befriedigenderes Vorgehen; in der Praxis kommt man aber vor allem bei sehr langfristigen Untersuchungen in der Regel nicht zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. In der Studie heißt es: “There is a high degree of commonality in inflation variation across measures, especially after accounting for the idiosyncratic movements in food and energy prices.”
- “The inflation trend is primarily determined by the history of inflation itself.”
- “… it is appropriate to emphasize that our discussions are in the spirit of trying to build on the triumph of modern central banking in delivering inflation that has been both low and stable for the better part of three decades.”
- Diese finanziellen Bedingungen (“financial conditions”) – es gibt dafür auch spezielle Indizes – sind eine Größe, die man in Analysen von in den Vereinigten Staaten tätigen Finanzmarktökonomen in den vergangenen Jahren häufig findet; bei in Europa tätigen Finanzmarktökonomen sieht man dies seltener.