In Amerika sind viele Gefängnisse in privater Hand. Für die Häftlinge ist das nicht von Vorteil. Das Angebot schafft sich seine Nachfrage.
Iudex non calculat, der Richter rechnet nicht. So ist es aus dem römischen Recht überliefert. Was aber ist damit gemeint? Zyniker lesen daraus eine Abneigung der juristischen Profession gegen das scheinbar schnöde Wirtschaftliche. Eine gängigere Interpretation der Floskel verweist darauf, dass Rechenfehler in einem Urteil jederzeit vom Gericht zu korrigieren seien und der Richter deshalb keine Rechenkünste brauche.
Der Spruch gilt auch als Hinweis, dass Gerichtsurteile mathematisch exakt nicht zu begründen seien und von der wertenden Einschätzung des Richters lebten. Nirgends wird das deutlicher als im Richterrecht angelsächsischer Prägung, in dem die Richter beim Entscheid über Schuld und Sühne viel Spielraum auch für Erwägungen außerhalb des gesetzlich vorgegebenen Rahmens haben.
Ein solcher Einflussfaktor außerhalb des Rechtsrahmens könnte die Existenz privater Gefängnisse sein. Das ist in den Vereinigten Staaten ein heißes Thema. Seitdem Mitte der achtziger Jahre private Gefängnisse aufkamen, hält sich der Verdacht, dass Gefängnisse als Geschäftsmodell zum rasanten Zuwachs der Gefängnisinsassen in Amerika beigetragen haben. Die Zahl der Einsitzenden hat sich seit 1985 ungefähr verdoppelt und ist damit weit stärker gewachsen als die Bevölkerung. Die Mutmaßung, dass die Existenz privater Gefängnisse damit zu tun hat, ist auf den ersten Blick nicht von der Hand zu weisen. Private Gefängnisbetreiber wollen Gewinn erzielen und haben ein Interesse daran, dass es mehr Gefangene gibt und dass diese länger einsitzen.
Privatisierung im Krieg gegen Drogen
Aber lässt sich diese Vermutung in der Realität nachweisen? Die Ökonomen Christian Dippel und Michael Poyker haben sich auf die Suche gemacht, und das heißt in diesem Fall, Statistiken und Daten zu bemühen. Die Genese der privaten Gefängnisse in den Vereinigten Staaten deutet zunächst auf einen anderen Zusammenhang hin. Private Gefängnisse dienten danach der Lösung eines Problems: Mit dem „Krieg gegen die Drogen“, den der amerikanische Präsident Richard Nixon im Jahr 1971 ausrief, stieg die Zahl der Häftlinge rapide an. Überfüllte Gefängnisse und immer höhere Kosten belasteten die Regierungen auf allen staatlichen Ebenen. Deshalb erschienen private Gefängnisse als praktischer Ausweg, weil die Anbieter versprachen, Gefangene kostengünstiger wegzuschließen.
Die Logik ist die gleiche wie bei der Privatisierung anderer öffentlicher Leistungen, die früher von staatlichen Bürokratien im Monopol erbracht wurden. Man denke an Telefonate, den Versand von Briefen oder die Fahrt mit der Eisenbahn. All diese Dienstleistungen wurden billiger und besser. Der Markt für private Gefängnisse wird in Amerika heute mit etwa fünf Milliarden Dollar beziffert. Rund sechs Prozent der Häftlinge auf der Ebene der Bundesstaaten und 16 Prozent der Gefangenen auf Bundesebene werden privatwirtschaftlich betreut.
Hat der Einzug der Privatwirtschaft in den Strafvollzug die Zahl der Gefangenen erhöht? Dippel und Poyker untersuchten Strafurteile mehrerer Jahrzehnte aus 13 Bundesstaaten genauer: aus 252 Landkreisen, die an den jeweiligen Staatengrenzen liegen. Diese geographische Beschränkung ist wichtig, weil sie direkte Vergleiche über die Staatsgrenze hinweg ermöglicht.
Das Angebot schafft sich seine Nachfrage
Die ökonometrischen Tests zeigen zunächst, dass das Angebot privater Gefängnisse keinen oder nur geringen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit hat, verurteilt zu werden. Signifikant und recht robust ist ein anderes Ergebnis: Je mehr private Gefängnisse in einem Bundesstaat vorhanden sind, desto länger fallen die Gefängnisstrafen aus. Konkret heißt das: Verdoppelt sich die Kapazität der privaten Gefängnisse, steigt die Länge der Haftstrafen um 1,3 Prozent oder 23 Tage. Das ist ein kleiner Effekt, der sich für den einzelnen Gefangenen dennoch sehr negativ auswirken kann. Der Zusammenhang scheint nach der Studie unabhängig vom Alter oder von der Rasse der Angeklagten zu sein. Der oft gehörte Vorwurf, private Gefängnisse benachteiligten schwarze Amerikaner, träfe demnach nicht zu.
Spannend ist die Frage nach dem Warum. Wie kommt es, dass mit der Zahl der privaten Gefängnisse die Länge der Haftstrafen steigt? Die beiden Ökonomen bieten drei mögliche Erklärungen an. Erstens könnten die Anbieter privater Gefängnisse versuchen, mit Geschenken oder Lobbyarbeit die Abgeordneten zu beeinflussen, höhere Haftstrafen gesetzlich festzuschreiben. Die Testmethode in der Studie lasse es nicht zu, diesen möglichen Einfluss zu untersuchen, schreiben die Autoren. Schade!
Zweitens könnten Gefängnisunternehmen versuchen, die Richter in Richtung längerer Haftstrafen zu beeinflussen. Geschenke oder auch Spenden im Wahlkampf könnten die Ohren der Richter für Einflüsterungen weiten, denn in manchen Bundesstaaten werden die Richter nicht von Staats wegen ernannt, sondern von der Bevölkerung gewählt. Solche Einflussnahme sollte sich besonders dann zeigen, wenn die Richter zur Wiederwahl anstehen und sich dieser Umstand in längeren oder mehr Haftstrafen niederschlägt. Die von Dippel und Poyker untersuchten Daten stützen diese Vermutung allerdings nicht.
Rechnen Richter doch?
So bleibt als dritter möglicher Grund für das Phänomen, dass die wirtschaftliche Rationalität zu ihrem Recht kommt. Die Kosten der Inhaftierung sind in privaten Gefängnissen üblicherweise niedriger, zumal manche Bundesstaaten den Anbietern vorschreiben, dass die Kosten pro Gefangenen niedriger als in staatlichen Gefängnissen liegen müssen. Kentucky, Mississippi und Texas verpflichten die Anbieter privater Gefängnisse etwa, dass sie zehn Prozent billiger sein müssen als die öffentliche Konkurrenz. Dem Bundesstaat Tennessee reichen schon fünf Prozent weniger.
Diese wirtschaftliche Komponente erweist sich in den Tests der Autoren als das wahrscheinlichste Argument, um den Zusammenhang zwischen privaten Gefängnissen und der Haftdauer zu erklären. Die Analyse deutet darauf hin, dass die Strafrichter Rücksicht auf die begrenzte Finanzkraft der Bundesstaaten nehmen und kürzere Haftstrafen verhängen, wenn weniger kostengünstigere private Gefängnisse zur Verfügung stehen. Ein endgültiger Beleg sind die statistisch-ökonometrischen Tests natürlich nicht. Doch es sieht fast so aus, als ob amerikanische Strafrichter doch rechnen.
Der Text erschien als „Sonntagsökonom” am 14. April in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
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