Endlose Meetings rauben Zeit und Energie. Sie kosten mehr, als sie nutzen. Von Jürgen Kaube
Wenn ich einmal sterbe, soll ein Manager gesagt haben, dann am liebsten während einer Sitzung, denn dann wäre der Übergang ins Jenseits gleitend. “Death by Meeting” lautete vor Jahren der Titel eines amerikanischen Bestsellers. Moderne Organisationen, staatliche wie privatwirtschaftliche, Universitäten wie Krankenhäuser, bestehen immer mehr aus Sitzungen. Auf die klassische Frage “Was tun Chefs eigentlich?” lautet eine Antwort häufig: Sie tagen.
Der Organisationspsychologe Steven G. Rogelberg von der Universität von North Carolina hat einen Forschungsüberblick über “Meetings” vorgelegt. Würde man die Kosten einer Sitzung berechnen, indem man das Jahresgehalt ihrer Teilnehmer in Stundensätze umrechnete, dann käme man für eine einzige, wöchentlich wiederholte Sitzung von einer Stunde mit sieben leitenden Angestellten auf mehr als 20 000 Euro im Jahr. Die Firma Xerox hat die jährlichen Sitzungskosten einmal mit gut 100 Millionen Dollar kalkuliert. Acht Prozent des amerikanischen Bruttosozialprodukts, wurde geschätzt, gehen für Sitzungen drauf. Und, so Rogelberg, dabei sind nicht einmal die Reise-, Raum- und Technikkosten enthalten, die mit Meetings einhergehen. Von den Frustrationskosten und denen der Regeneration nach Sitzungen ganz zu schweigen.
Hinzu kommt die Dauerklage, dass Sitzungen nicht produktiv sind. Bei Microsoft gaben das schon vor fünfzehn Jahren gut zwei Drittel der Beschäftigten an. Auf der Liste der Zeitverschwender stehen Meetings ganz oben. Drei von fünf Teilnehmern einer “Status-Sitzung”, in der alle Mitglieder eines Teams auf den Stand der Aktivitäten gebracht werden, geben an, dass sie während des Meetings anderen Aufgaben nachgehen. Gegenläufige Bewertungen gibt es zwar auch. Die Forschung hat aber festgestellt, dass diejenigen ein Meeting am besten beurteilen, die in ihm am meisten geredet haben.
Das heißt für Rogelberg nichts anderes, als dass Führungskräfte Meetings überschätzen, vor allem, wenn sie von ihnen einberufen wurden.Warum aber gibt es so viele Meetings, wenn alle darüber klagen? Ein Grund ist, dass sie nicht nur der Entscheidungsfindung dienen. Motivation durch Beteiligung, das ständige Informieren aller über alles und eine weite Definition von Betroffenheit – die zunehmende Zahl von Sitzungen sei, so ein Manager aus der pharmazeutischen Industrie, die Steuer auf eine Unternehmenskultur, die sich weg von einsamen Entscheidungen bewege. Sitzungen vermitteln ihren Teilnehmern das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein. Nicht zuletzt wächst ihre Zahl mit der Arbeitsteilung in Organisationen.
Sitzungen sind also gut und schlecht zugleich. Sie ermöglichen Synergien, sie tendieren aber auch zu “Gruppendenken”, also der Bekräftigung geteilter Ansichten gegenüber individuellen Wahrnehmungen. Mündliche Kommunikation sieht zwar spontan aus, ist aber oft besonders konformistisch. Daher kommen die Empfehlungen der Forschung auch nicht über das Ausbuchstabieren paradoxer Erwartungen hinaus: Der Leiter eines Meetings soll ein guter Zuhörer sein und sich nicht voreilig einmischen, aber auch das Heft der Diskussion an sich ziehen, wenn Orientierung von ihm erwartet wird. Die Chefin soll Konsens nicht erzwingen, aber ergebnisorientiert führen. Ihre Meinung soll nur eine unter anderen sein, aber sie soll sich auch nicht verstecken, wenn sie tatsächlich die Expertin für eine gerade diskutierte Sache ist. Und so weiter.
Auch bei anderen kritischen Eigenschaften von Meetings zeigt sich ihr kippfigürliches Wesen. Die Tagesordnung soll durchdacht sein – aber nicht zu strikt. Der Sitzungsleiter soll sie spontan ändern können – aber er soll sich auch zurückhalten. Meetings sollen auf keinen Fall große Versammlungen sein (ab sieben Teilnehmer, will man gemessen haben, gehe die Effektivität pro zusätzlichem um zehn Prozent zurück) – aber sie sollen der Partizipation dienen und niemanden isolieren. Dass die meisten Meetings unabhängig von ihrem Inhalt eine Stunde dauern, erinnert an “Parkinsons Gesetz”. Es besagt, dass Arbeit genau so viel Zeit in Anspruch nimmt, wie für sie vorhanden ist.
Rogelberg empfiehlt, um diese Trägheit zu durchbrechen, ungewöhnliche Sitzungslängen wie 48 Minuten oder Anfangszeiten wie 10:36. Sie vermittelten von vornherein ein anderes Zeitgefühl. Auch eine Reduktion der eigentlich vorgesehenen Sitzungsdauer um 5 bis 10 Prozent versorge die Kommunikation mit stimulierendem Druck. Allerdings müsse mit eingerechnet werden, dass der Forschung zufolge die Hälfte aller Meetings später beginne als angesetzt. Die Managerin Marissa Meyer wiederum – zuerst Google, dann Yahoo – war für ihre zehnminütigen Meetings bekannt, wovon es dann für sie wöchentlich bis zu siebzig gab.
Wieder stehen wir vor einem Bewertungsparadox: der Effekt größerer Konzentration auf das Wesentliche und höherer Anpassungsfähigkeit auf der einen Seite, der größere Transaktionsaufwand und die geringen Chancen zum Ausredenlassen auf der anderen Seite. Eine andere Zeitdimension von Meetings ist ihre Verteilung über den Tag. Rogelberg rät zu frühen, kurzen Treffen im Stehen – oder bei wenigen Teilnehmern sogar im Gehen – an immer demselben Ort mit immer denselben zentralen Fragen der Tagesplanung. Solche Treffen sollen die weitere Kommunikation ihrer Teilnehmer untereinander vorbereiten, die sich aus ihnen aber nur ergibt, sofern es die Beteiligten für nötig erachten.
Kritisch ist hier die Länge des Meetings, denn nichts sei schlimmer als die Erwartung von Kürze, die sich nicht erfüllt. Beim amerikanischen Umzugsunternehmen Buddytruk soll es die Regel geben, dass bei Zeitverzug die letzte Person, die etwas sagt, danach 50 Push-ups machen muss. Die Immobilienfirma tripping.com setzt, rein gesundheitlich betrachtet, auf das Gegenteil: Jede Gesprächsleitung, die ein Meeting nicht zum vereinbarten Zeitpunkt zu Ende bringt, zahlt in die Getränkekasse ein. Was die Zusammensetzung von Meetings angeht, empfiehlt Rogelberg Daumenregeln: Nie mehr als sieben Teilnehmer bei Entscheidungen, bis zu fünfzehn bei Brainstorming und – eine Devise von Steve Jobs – keine Zuschauer.
Und was den Interaktionsstil in Meetings angeht, verweist der Autor auf den bemerkenswerten Befund der Forschung, dass sowohl die Menge wie die Qualität von Ideen abnimmt, wenn Leute miteinander reden, anstatt für sich nachzudenken und das Ergebnis erst dann zu kommunizieren. Rogelberg rät also zu mehr “Non-Talking-Meetings” etwa nach einem Modell, das bei Amazon üblich ist: Es werden in der Sitzung keine Präsentationen vorgeführt, sondern die entsprechenden Texte schweigend gelesen, währenddessen wird nachgedacht und erst dann kommuniziert.
Steven G. Rogelberg: The Surprising Science of Meetings, Oxford University Press 2019.