Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Immer Ärger mit dem Zeitgeist

| 7 Lesermeinungen

Einer plappert dem anderen nach. Da kommt leicht ein großer Irrtum raus.

Schon in den 80ern ein Star: Meryl Streep war im Zentrum einer großen Informationskaskade. (Foto: Picture Alliance)

Ob ein Lied ein Hit wird, kann bis heute niemand zuverlässig vorhersagen. Es hängt vom Zufall ab, und zwar von einem bestimmten. Das weiß die Welt schon seit zehn Jahren, als drei Soziologen ein kleines Experiment unternahmen: Sie ließen 14.000 Menschen Musik von unbekannten Künstlern herunterladen und bewerten – in mehreren voneinander getrennten Gruppen. Solange die Menschen nicht wussten, was die anderen hörten, verteilten sie ihre Gunst halbwegs gleichmäßig. Wenn sie aber erfuhren, was die anderen Teilnehmer hörten, bildeten sich meist klare Hits heraus, allerdings in den verschiedenen Gruppen unterschiedliche. Vieles hing offenbar davon ab, was die ersten Hörer getan hatten.

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Der Historiker Yuval Noah Harari fasst zusammen, die evolutionär wichtigste Fähigkeit des Menschen sei gewesen, in größeren Gruppen zusammenzuarbeiten. Das kann allerdings auch seine Nebenwirkungen haben. Bei Musikhits ist das noch nicht so wichtig, es gibt aber noch ganz andere Experimente.

Beispielhaft dafür steht eine Serie des Sozialpsychologen Solomon Asch aus den 50er Jahren: Er ließ Probanden die Länge von Linien vergleichen. Eine Linie auf der einen Seite, auf der anderen Seite mehrere Linien unterschiedlicher Länge – und die einfache Frage: Welche dieser Linien ist so lang wie die einzelne?

Die Aufgabe war nicht schwer: Wurden die Probanden einzeln befragt, wählten mehr als 95 Prozent die richtige Linie aus. Waren die Probanden aber in einer Gruppe, in der die anderen Mitglieder absichtlich eine falsche Linie nannten, änderte sich das: Plötzlich blieb nur noch ein Viertel der Probanden immer bei der richtigen Antwort – zumindest, wenn sie die öffentlich kundtun mussten.

So entstehen Informationskaskaden

Leicht entstehen da so genannte „Informationskaskaden“: Einer hat eine Meinung, der zweite weiß es nicht genau und richtet sich mal grob nach dem ersten, der dritte hätte zwar schon eine fundierte andere Meinung, aber will er sich wirklich gegen die zwei anderen stellen – zumal wenn er sich dadurch womöglich unbeliebt macht? Mit der Zeit wird Widerspruch immer schwieriger. Psychologie und Sozialwissenschaften kennen viele solcher Konzepte, vom „Groupthink“ bis zur „Schweigespirale“.

Da entsteht leicht ein Zeitgeist, der nicht immer richtig ist, sondern manche Themen übermäßig betont und andere unterschätzt. Wie dieser Zeitgeist entsteht, das hängt von vielen Zufällen ab. Und so kann es passieren, dass ähnliche Länder ganz unterschiedliche Blickwinkel auf die gleiche Frage haben. Zum Beispiel im Fall der Atomkraft: Während die in Deutschland als Teufelszeug gilt, halten es Franzosen für klimatechnisch unmoralisch, in den nächsten Jahren auf Atomenergie zu verzichten.

Als Äpfel giftig waren

Manchmal schießt der Zeitgeist übers Ziel hinaus. Das erlebte die Schauspielerin Meryl Streep in den 80er Jahren. Es ging um das Pflanzenschutzmittel Alar, das auf vielen amerikanischen Äpfeln zu finden war. Es galt als krebserregend. Eine Kampagne gegen das Mittel entstand, Streep stellte sich an ihre Spitze, in Talkshows und im Kongress forderte sie ein Verbot und setzte das durch.

Ein besorgter Bürger fragte die Gift-Hotline, ob es sicherer sei, den Apfelsaft den Abfluss hinunterzukippen – oder ob er ihn zur Giftmülldeponie bringen müsse. Viele Eltern gaben ihren Kindern keine Äpfel mehr zu essen. Und schadeten ihnen dadurch viel mehr als ihnen die Äpfel geschadet hätten – selbst nach damaligem Wissensstand. Alar war nämlich nur dann krebserregend, wenn man rund 20.000 Liter Apfelsaft am Tag trank.

Die Polarisierung wächst

Es ist vielleicht kein Zufall, dass solche Beispiele ausgerechnet jetzt wieder diskutiert werden, wo sich die politische Lage in vielen Ländern polarisiert. Für Amerika haben das der Autor Ezra Klein und der Ökonom Tyler Cowen in einem Podcast gerade erst so kategorisiert, dass sich die Gesellschaft ändert: Wo unterschiedliche Konfliktlinien – politische, kulturelle – einst überkreuz lagen, so dass unterschiedliche Leute oft noch irgendeinen gemeinsamen Nenner fanden, fallen diese Konfliktlinien jetzt oft zusammen.

In Deutschland wird zum Beispiel in sozialen Netzwerken deutlich, dass sich viele Menschen immer weiter von Gegenmeinungen abschotten, indem sie Menschen anderer Meinung blockieren, also deren Äußerungen überhaupt nicht mehr gezeigt bekommen möchten.

Zwei neue Bücher

In den vergangenen Monaten sind gleich zwei Bücher erschienen, die sich mit diesen Phänomenen auseinandersetzen: Princeton-Ökonom Robert Frank weitet das Thema auf viele Arten von sozialen Einflüssen, denen Menschen unterliegen. Er betont auch, wie zum Beispiel die Immobilienpreise davon abhängen, was unsere Nachbarn machen: Oft arbeiten inzwischen beide Ehepartner, sie haben mehr Geld, konkurrieren aber um die gleichen Häuser. Also gehen die Immobilienpreise nach oben, und leisten kann man sie sich das nur noch, wenn eben beide Ehepartner arbeiten. So üben die Familien aufeinander Druck aus, dass jeweils beide Elternteile arbeiten.

Harvard-Jurist Cass Sunstein, der oft an den Grenzen zur Verhaltensökonomik arbeitet, bleibt in seinem Buch enger an den Informationskaskaden. Was hilft dagegen? Manchmal ist das gar nicht so wichtig, nämlich in Gruppen, in denen es weniger auf korrekte Informationen und mehr auf den sozialen Zusammenhalt ankommt. In anderen Konstellationen, zum Beispiel an Gerichten und in Unternehmen, sind korrekte Entscheidungen wichtiger. Einige Teams vergeben an ein Mitglied ausdrücklich die Aufgabe, dem Konsens der anderen zu widersprechen. Sunstein hält es allerdings nicht für hilfreich, wenn jemand immer dagegen ist – daran gewöhne man sich schnell. Er plädiert dafür, alles zu bekämpfen, das Konformität belohnt. Und dafür zu sorgen, dass möglichst viele Menschen ihre Informationen unabhängig von anderen in die Diskussion einbringen.

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7 Lesermeinungen

  1. michaelstoecker sagt:

    Lieber die richtigen Ökonomen fragen; dann brauchen wir auch weniger Psychologen!
    „Einer plappert dem anderen nach. Da kommt leicht ein großer Irrtum raus.“

    So ist es, Herr Bernau. So auch Michael Hüther noch im Jahre 2015:

    „Volkswirtschaftlich gesehen nehmen Banken im Kapitalmarkt eine Mittlerrolle zwischen Kreditnehmern und Sparern ein (Fama, 1980). Anleger, also etwa institutionelle Investoren oder private Sparer, geben Banken Kapital aufgrund in Aussicht gestellter Erträge, welches die Banken dann an Kreditnehmer weiterreichen.“ https://www.iwkoeln.de/fileadmin/publikationen/2015/206811/Langfristfinanzierung_Analysen_Nr101.pdf Seite 35.

    „Es ist interessant zu sehen, wie oberflächlich Ökonomen häufig unterwegs sind.“

    Ich kann dieser Aussage von Herbert Hallerdie weiter unten nur zustimmen.

    Aber: Gut Ding will Weile haben.

    12 Jahre nach der Bundesbank fordert nun auch Peter Bofinger die Kopernikanische Wende und lässt die neoklassische Synthese in luftiger Höhe platzen:

    “Macroeconomics is a sick science.”

    “For economics as a science, the neoclassical synthesis has led to huge reputational damage. Its inability to recognise the Great Financial Crisis (GFC) is due to the fact that in the classical model the role of banks is reduced to that of mere intermediary between savers and investors.”

    “How can the Keynesian revolution be completed? The chances of achieving this today are not very good, because to do so would devalue the human capital of most macroeconomists. Thus, young students need to wake up and realise they are being taught models whose laws of motion are as inconsistent with reality as Ptolemy’s world view. We need a ‘Fridays for Keynesianism’ movement.“

    https://www.socialeurope.eu/fridays-for-keynesianism

    LG Michael Stöcker

  2. Alcolaya sagt:

    Ein Thema, welches ich als Berater immer spannend fand!
    Aber wie Herr Hallerdie oben schreibt, ein eher psychologisches, ich würde sagen, eher ein soziologisches, wenn wir die Soziologie Luhmanns zu Grunde legen.

    Das Entstehen von Zukunft ist halt intellektuell kaum nachvollziehbar und eher eine Aufgabe für unsere Intuition.

    Ich stellte auch bei meinen Zukunftsberatungen fest, dass in relativ hierarchiefreien Räumen und mit unterhierarchischen Teams – die wir mit modernen Tagungsmethoden wie Open Space u.a. herstellten, durchaus weit bessere Ergebnisse entstehen, als wenn dies Die Führung unter sich aus macht.

  3. BGrabe02 sagt:

    Die Konkurrenz des Richtigen
    Im Grunde genommen geht es um das Thema Opportunität und die Konkurrenz zwischen dem individuell Richtigen und dem universell Richtigen. Um Macht und wann man sich der macht beugt und wann nicht.
    Sich anzupassen ist ein Erfolgsmodell, das zunehmend in der Politik wieder fragwürdigerweise ausgenutzt wird. (Untertanengeist)
    Beim Kampf gegen Rechts z.B. wird versucht diese Anpassung durch Druck zu erzwingen, Der Opportunitätsdruck wurde massiv erhöht um Amtsträger auf Linie zu halten.
    Gerade in Erfurt durch exerziert, was man sonst immer von den Vorgängen auch halten mag.
    Faktische Macht macht auch individuell vernünftig, was ethisch letztlich unhaltbar wäre.
    Nämlich immer dann, wenn es gar nicht um Wahrheit einer Sache geht, sondern um Zustimmung!
    Opportunisten sozialisieren sich auch ohne Not, doch das Feld ab dem ein opportunes Verhalten verwerflich wird ist letztlich individuell bestimmt und daher gar nicht absolut abgrenzbar.
    Die ganz realen Schattenseiten einer unselektierten Einwanderung z.B. sind Grund genug mit der Einwanderungspolitik nicht einverstanden zu sein.
    Die Weigerung diese Folgen zu vermeiden delegitimiert die abstrakte Humanität der Flüchtlingsrettung.
    Der Tod als Totschlag Argument um Opportunität zu erzwingen, das Falsche weiter machen zu dürfen, was für ein massiver Missbrauchsskandal!
    In einer Gesellschaft bei der das Muss zur Sozialisierung, zur Erpressung missbraucht wird, um die eigene Ideologie durchzusetzen ist keine demokratische und auch keine ethisch richtige Gesellschaft mehr.
    Es gäbe bessere Wege, aber keinen Willen dazu, denn nur Opportunität verhindert dabei ein ernstes Risiko eingehen zu müssen. Die Opportunität des “piep piep piep, wir haben uns alle lieb”. Wobei davon am Ende immer wenger profitieren und als letztes vor allem die,die die Fahnen dieses Prinzips bis zum bitteren Ende hoch halten.
    Opportunisten die bei anderen opportunes Verhalten einfordern und erzwingen.
    Wohin sorgloser Wohlstand doch die Menschen so bringt…

  4. MVetter sagt:

    Das ist die erste Stufe der kritischen Vernunft –
    immer eine Gegenstimme zu Geltung bringen und bedenken. Guter Rat. Die zweite Stufe besagt jedoch: die Mehrheitsmeinung kann auch richtig liegen, und dann ist einer daneben liegenden Minderheitsmeinung deutlich zu widersprechen, und nicht so nett, wie Sie hier der Psychotraumatologie (die es sicher gibt, die aber ebenso sicher nicht der primäre Grund für den alltäglichen Konformismus sind). Sie haben ja sehr schön gezeigt, wie auch unsinnige Minderheitsmeinungen zu Mehrheitsmeinungen werden können. Am Ende hilft eben nur, sich nicht freiwillig seiner Vernunft zu entledigen.

  5. HerbertHallerdie sagt:

    Lieber Psychologen fragen als Ökonomen
    Es ist interessant zu sehen, wie oberflächlich Ökonomen häufig unterwegs sind. Gerade auf dem Gebiet der Verhaltensökonomik. Wer die Welt gründlicher und wahrhaftiger verstehen will, sollte sich mal mit Franz Ruppert und der identitätsorientierten Psychotraumatologie beschäftigen (“Wer bin ich in einer traumatisierten Gesellschaft”). Bei Aussagen über “Menschen” sollte man immer zwischen dem gesunden Menschen, der von sich aus das Meiste richtig macht und dem traumatisierten Menschen, der sich zum Beispiel an seinem Nachbarn orientiert, einen großen SUV fahren muss, Identitätsprobleme hat, alleine gar nicht richtig existieren kann und deshalb ein angepaßtes, konformes Leben lebt, unterscheiden.

    • Patrick Bernau sagt:

      Nun ist die Oberflächlichkeit der Darstellung vielleicht auch dem geschuldet, dass ich auch hier keine Dissertation abliefern kann, sondern der Text nicht allzusehr ausufern sollte.
      Die hier zitierten Wissenschaftler sind jedenfalls zu einem nicht geringen Teil Psychologen.

    • KeimB sagt:

      Nicht jeder, der den andern hinterherrennt ist deswegen schon traumatisiert
      sich anderer Menschen Meinung anzuschließen hat auch etwas mit Entscheidungsökonomie zu tun. In belanglosen Dingen lohnt es sich oft nicht anderer Meinung zu sein.
      Und dass man andere nachäfft, ist auch unserem Wesen geschuldet. So wie kleine Kinder Erwachsenenszenen nachspielen, spielen die Erwachsenen oft die Erfolgreichen nach. Natürlich zeugt das nicht von einer sonderlich reflektierten Persönlichkeit. Ab so ist das Leben halt nun einmal: man betrügt sich selbst um der anderen willen und die andern um seiner selbst willen.

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