Einer plappert dem anderen nach. Da kommt leicht ein großer Irrtum raus.
Ob ein Lied ein Hit wird, kann bis heute niemand zuverlässig vorhersagen. Es hängt vom Zufall ab, und zwar von einem bestimmten. Das weiß die Welt schon seit zehn Jahren, als drei Soziologen ein kleines Experiment unternahmen: Sie ließen 14.000 Menschen Musik von unbekannten Künstlern herunterladen und bewerten – in mehreren voneinander getrennten Gruppen. Solange die Menschen nicht wussten, was die anderen hörten, verteilten sie ihre Gunst halbwegs gleichmäßig. Wenn sie aber erfuhren, was die anderen Teilnehmer hörten, bildeten sich meist klare Hits heraus, allerdings in den verschiedenen Gruppen unterschiedliche. Vieles hing offenbar davon ab, was die ersten Hörer getan hatten.
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Der Historiker Yuval Noah Harari fasst zusammen, die evolutionär wichtigste Fähigkeit des Menschen sei gewesen, in größeren Gruppen zusammenzuarbeiten. Das kann allerdings auch seine Nebenwirkungen haben. Bei Musikhits ist das noch nicht so wichtig, es gibt aber noch ganz andere Experimente.
Beispielhaft dafür steht eine Serie des Sozialpsychologen Solomon Asch aus den 50er Jahren: Er ließ Probanden die Länge von Linien vergleichen. Eine Linie auf der einen Seite, auf der anderen Seite mehrere Linien unterschiedlicher Länge – und die einfache Frage: Welche dieser Linien ist so lang wie die einzelne?
Die Aufgabe war nicht schwer: Wurden die Probanden einzeln befragt, wählten mehr als 95 Prozent die richtige Linie aus. Waren die Probanden aber in einer Gruppe, in der die anderen Mitglieder absichtlich eine falsche Linie nannten, änderte sich das: Plötzlich blieb nur noch ein Viertel der Probanden immer bei der richtigen Antwort – zumindest, wenn sie die öffentlich kundtun mussten.
So entstehen Informationskaskaden
Leicht entstehen da so genannte „Informationskaskaden“: Einer hat eine Meinung, der zweite weiß es nicht genau und richtet sich mal grob nach dem ersten, der dritte hätte zwar schon eine fundierte andere Meinung, aber will er sich wirklich gegen die zwei anderen stellen – zumal wenn er sich dadurch womöglich unbeliebt macht? Mit der Zeit wird Widerspruch immer schwieriger. Psychologie und Sozialwissenschaften kennen viele solcher Konzepte, vom „Groupthink“ bis zur „Schweigespirale“.
Da entsteht leicht ein Zeitgeist, der nicht immer richtig ist, sondern manche Themen übermäßig betont und andere unterschätzt. Wie dieser Zeitgeist entsteht, das hängt von vielen Zufällen ab. Und so kann es passieren, dass ähnliche Länder ganz unterschiedliche Blickwinkel auf die gleiche Frage haben. Zum Beispiel im Fall der Atomkraft: Während die in Deutschland als Teufelszeug gilt, halten es Franzosen für klimatechnisch unmoralisch, in den nächsten Jahren auf Atomenergie zu verzichten.
Als Äpfel giftig waren
Manchmal schießt der Zeitgeist übers Ziel hinaus. Das erlebte die Schauspielerin Meryl Streep in den 80er Jahren. Es ging um das Pflanzenschutzmittel Alar, das auf vielen amerikanischen Äpfeln zu finden war. Es galt als krebserregend. Eine Kampagne gegen das Mittel entstand, Streep stellte sich an ihre Spitze, in Talkshows und im Kongress forderte sie ein Verbot und setzte das durch.
Ein besorgter Bürger fragte die Gift-Hotline, ob es sicherer sei, den Apfelsaft den Abfluss hinunterzukippen – oder ob er ihn zur Giftmülldeponie bringen müsse. Viele Eltern gaben ihren Kindern keine Äpfel mehr zu essen. Und schadeten ihnen dadurch viel mehr als ihnen die Äpfel geschadet hätten – selbst nach damaligem Wissensstand. Alar war nämlich nur dann krebserregend, wenn man rund 20.000 Liter Apfelsaft am Tag trank.
Die Polarisierung wächst
Es ist vielleicht kein Zufall, dass solche Beispiele ausgerechnet jetzt wieder diskutiert werden, wo sich die politische Lage in vielen Ländern polarisiert. Für Amerika haben das der Autor Ezra Klein und der Ökonom Tyler Cowen in einem Podcast gerade erst so kategorisiert, dass sich die Gesellschaft ändert: Wo unterschiedliche Konfliktlinien – politische, kulturelle – einst überkreuz lagen, so dass unterschiedliche Leute oft noch irgendeinen gemeinsamen Nenner fanden, fallen diese Konfliktlinien jetzt oft zusammen.
In Deutschland wird zum Beispiel in sozialen Netzwerken deutlich, dass sich viele Menschen immer weiter von Gegenmeinungen abschotten, indem sie Menschen anderer Meinung blockieren, also deren Äußerungen überhaupt nicht mehr gezeigt bekommen möchten.
Zwei neue Bücher
In den vergangenen Monaten sind gleich zwei Bücher erschienen, die sich mit diesen Phänomenen auseinandersetzen: Princeton-Ökonom Robert Frank weitet das Thema auf viele Arten von sozialen Einflüssen, denen Menschen unterliegen. Er betont auch, wie zum Beispiel die Immobilienpreise davon abhängen, was unsere Nachbarn machen: Oft arbeiten inzwischen beide Ehepartner, sie haben mehr Geld, konkurrieren aber um die gleichen Häuser. Also gehen die Immobilienpreise nach oben, und leisten kann man sie sich das nur noch, wenn eben beide Ehepartner arbeiten. So üben die Familien aufeinander Druck aus, dass jeweils beide Elternteile arbeiten.
Harvard-Jurist Cass Sunstein, der oft an den Grenzen zur Verhaltensökonomik arbeitet, bleibt in seinem Buch enger an den Informationskaskaden. Was hilft dagegen? Manchmal ist das gar nicht so wichtig, nämlich in Gruppen, in denen es weniger auf korrekte Informationen und mehr auf den sozialen Zusammenhalt ankommt. In anderen Konstellationen, zum Beispiel an Gerichten und in Unternehmen, sind korrekte Entscheidungen wichtiger. Einige Teams vergeben an ein Mitglied ausdrücklich die Aufgabe, dem Konsens der anderen zu widersprechen. Sunstein hält es allerdings nicht für hilfreich, wenn jemand immer dagegen ist – daran gewöhne man sich schnell. Er plädiert dafür, alles zu bekämpfen, das Konformität belohnt. Und dafür zu sorgen, dass möglichst viele Menschen ihre Informationen unabhängig von anderen in die Diskussion einbringen.
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