Ludwig Erhard, das ist im kollektiven Gedächtnis der Deutschen der Mann mit der Zigarre, der Wirtschaftsminister der Ära Adenauer und spätere Bundeskanzler. Er gilt als Vater der Sozialen Marktwirtschaft. Kaum jemand steht so sehr für das deutsche “Wirtschaftswunder” wie er.
Vor gut einem Jahr wurde Ludwig Erhards Vergangenheit Gegenstand einer Kontroverse. Es ging um seine Rolle im Dritten Reich. Erhard selbst hatte immer seine Distanz zum NS-Regime betont. Die Quellenlage war mager.
Dann aber erschien ein Buch der “taz”-Journalistin Ulrike Herrmann, in dem sie dem einstigen Wirtschaftsminister vorwarf, “aktiv und systematisch gelogen” zu haben über sein Wirken im Dritten Reich. Als Gutachter für die Wirtschaft sei Erhard ein “Profiteur des NS-Regimes” gewesen. Mehr noch, so Herrmann: “Erhard dachte in völkischen Kategorien.” Außerdem widerspricht die Autorin vehement der Auffassung, Erhard habe einen entscheidenden Beitrag zur Einführung der D-Mark 1948 und dem darauffolgenden “Wirtschaftswunder” geleistet. Ihre Abrechnung mit dem einstigen Wirtschaftsminister brachte ihr große Aufmerksamkeit – und viel Widerspruch. Aber was ist an den Vorwürfen dran?
Eine umfassende Antwort auf diese brisante Frage gibt nun der Historiker Daniel Koerfer in einer neuen Ausgabe seines 1986 erstmals erschienenen Buchs “Kampf ums Kanzleramt – Erhard und Adenauer”. Angelegt ist das Werk, damals wie heute, als Doppelbiographie der beiden prägenden Politiker, die ihren Schwerpunkt auf den titelgebenden langwierigen Konflikt zwischen Erhard und Adenauer über die Kanzlernachfolge legt. Neu an der jetzt erschienenen Ausgabe sind vor allem die ersten 200 der insgesamt knapp 1000 Seiten, auf denen sich der Autor ausführlich mit dem Leben des alten Wirtschaftsministers vor 1945 und in der Zeit unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs befasst. Und er analysiert, wie die Erfahrungen im Dritten Reich Erhards Wirtschaftskonzept prägten.
Als Sohn eines Kaufmanns am 4. Februar 1897 in Fürth geboren, meldete sich Erhard im Ersten Weltkrieg freiwillig und wurde mehrfach verwundet. Nach seiner Rückkehr machte er einen Abschluss als Diplom-Kaufmann, promovierte anschließend bei Franz Oppenheimer in Frankfurt und arbeitete danach im väterlichen Weißwaren-Geschäft in Fürth. Als dieses inmitten der schweren Wirtschaftskrise der zwanziger Jahre Konkurs anmelden musste, begann Erhard 1928 seine Arbeit im Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware an der Handelshochschule in Nürnberg. Dann begann eine Schaffensphase, über die Erhard selbst lieber kein Wort verlor. Denn: Von 1939 an arbeitete er für das NS-Regime. Er kooperierte mit Gauleiter Josef Bürckel, dem er sich als Wirtschaftsberater vor allem für Elsass-Lothringen zur Verfügung stellte, und auch als Gutachter für die NS-Haupttreuhandstelle Ost (HTO) in den besetzten polnischen Gebieten.
Für die neue Ausgabe haben Koerfer und seine Mitarbeiter rund 35 Archive neu abgesucht. Sie spürten die verschollene Militärakte Erhards aus dem Ersten Weltkrieg auf, sichteten seine Bankauszüge, um seine Rolle als “Berater” der “Arisierer-Seite” der Rosenthal-Porzellanwerke im oberfränkischen Selb zu beleuchten, und arbeiteten anhand der Akten der SS Erhards Tätigkeit als Gutachter aus.
Das Ergebnis erzählt die Geschichte eines Mannes, dessen Handlungen schlimmstenfalls als zwiespältig beschrieben werden können. Kritiker können ihm stellenweise Opportunismus vorwerfen. “Er war kein Widerstandskämpfer”, formuliert es Koerfer milder. Nach seiner Auffassung war Erhard allerdings höchstens “blauäugig” und “politisch naiv”. Der Historiker argumentiert, dass sich ein Muster durch Erhards Verhalten ziehe. Er habe die Gunst der Obrigkeit nicht verspielen, “aber dennoch unbedrängt tun wollen, wonach ihm der Sinn steht”. Durch seine enge Beziehung zu Gauleiter Bürckel habe er sich wohl geschützt gefühlt. Ein Sympathisant des Regimes ist Erhard nach allem, was Koerfer und seine Mitarbeiter fanden, aber mit Sicherheit nicht.
Koerfers Neuauflage ist auch als Antwort auf Herrmanns Buch zu lesen. Die Kritik der “taz”-Journalistin sei eine Motivation gewesen, die offenen Fragen über den Lebenslauf des einstigen Wirtschaftsministers zu beantworten, sagt der Historiker, der auch die Dauerausstellung des 2018 eröffneten Ludwig-Erhard-Zentrums in Fürth wissenschaftlich kuratiert. In manchen Punkten habe Herrmann in ihrer Darstellung nicht einmal unrecht, sagt Koerfer, etwa wenn sie schreibe, dass Erhard mit der Einführung der D-Mark nicht wirklich etwas zu tun gehabt hätte. “Da war er höchstens beratend tätig.” Dass sie dem Wirtschaftsminister allerdings eine Sympathie für die Nazis unterstellt und ihm sein Verdienst am Wirtschaftswunder abspricht, sei “Hohn”. Nicht nur sei die große Wirtschaftsreform klar auf Erhard zurückzuführen. Das von ihm propagierte und politisch zur Umsetzung gebrachte Wirtschaftsmodell sei zudem eine klare Gegenthese zum NS-Regime. “Erhard war ein Fundamentalist der Freiheit”, sagt Koerfer. Die Erfahrungen in der NS-Zeit hätten ihn dazu gemacht.
Die Quellen, die der Historiker in seinem Buch für diese Interpretation liefert, sind zahlreich und ausführlich belegt. Zu den bedeutendsten Aktivitäten Erhards in der fraglichen Zeit zählt Koerfer die Tatsache, dass dieser, obwohl von Hitler 1942 per Führererlass verboten, noch während des Kriegs ökonomische Nachkriegsplanung betrieb – etwa in Form einer Denkschrift über die Sanierung der Reichsmark, die Erhard in den frühen 1940er Jahren verfasste. Darin plädierte er nicht nur für einen radikalen Währungsschnitt, sondern umriss, wenn auch vage, erstmals seine spätere Wirtschaftskonzeption: Als Wirtschaftsform sah er das dirigistische Regime versagen – als Basis für zukünftigen Wohlstand müssten der Staatseinfluss zurückgedrängt und dem Markt und Konsumenten wieder mehr Freiraum und Freiheiten eingeräumt werden.
Auch der Widerstandskämpfer Carl Friedrich Goerdeler liest Erhards Schrift. Kurz vor seiner Verhaftung im August 1944 legt er seinen Mitstreitern Erhard als Berater ans Herz. Dass Erhard kein NS-Sympathisant, sondern allenfalls naiv und ein “politischer Optimist” war, argumentiert Koerfer, zeige sich auch in dessen Umgang mit seiner Denkschrift. Zu einer Zeit, in der ein falsches Wort einem den Kopf kosten kann, verschickte er sie mit der Post und trug sie sogar in seiner Aktentasche mit herum.
Koerfer, Daniel: Kampf ums Kanzleramt – Erhard und Adenauer, Benevento 2020.
Herrmann, Ulrike: Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen – Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind. Westend Verlag 2019.