Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Die Mafia – Dein Freund und Helfer

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Kriminelle Banden kümmern sich in ihren Vierteln um Arme und Schwache. Das nutzt ihnen für ihre Geschäfte. Von Winand von Petersdorff

 
Der Schriftsteller Mario Puzo kannte sein Metier. In seinem Jahrhundertwerk “Der Pate” sieht sich Santino, der Sohn des Mafia-Paten, mit einem kriminellen Klempner konfrontiert, der die Zentralheizung des Hauses in Einzelteile zerlegt hat und nun einen gewaltigen Aufpreis fürs Zusammenbauen verlangt. Dreiste Erpressung. Statt die Polizei zu rufen, wendet Santino Corleone die genreüblichen Repressionsmethoden an, um den Klempner gefügig zu machen. Er zückt eine Pistole. Doch damit nicht genug: Er verlangt, dass die verbrecherischen Klempner ihre Arbeit in dem Stadtviertel einstellen, in das die Mafia-Familie jüngst gezogen ist. Auch andere Kriminelle bekommen die klare Warnung, ihre Aktivitäten im Viertel zu beenden. Mit der Zeit wird es das sicherste Quartier der Stadt, heißt es in dem Roman. Die Mafia spielt Ordnungsmacht.

Puzo spießte ein Phänomen auf, das in den vergangenen Jahren zunehmend auch Ökonomen fasziniert: Verbrecherorganisationen übernehmen Aufgaben, die in funktionierenden Gemeinwesen von öffentlichen Verwaltungen ausgeführt werden. Global leben bis zu hundert Millionen Menschen unter der Fuchtel von Verbrecherbanden. Die sehen es manchmal als opportun an, den Leuten in ihren Vierteln zu helfen. Die klassische Dienstleistung ist Schutz vor Kriminalität durch Fremde.
Eines der extremsten Beispiele in dieser Kategorie lieferte die brasilianische Gang “Primeiro Comando da Capital”, deren Führungskräfte simultan Rebellionen in 90 Gefängnissen auslösten und gleichzeitig Terroranschläge in São Paulo in Auftrag gaben, um die Stadtführung zu bestimmten Zugeständnissen zu zwingen. Paradoxerweise, so schreibt es der Forscher Benjamin Lessing, sorgte die gleiche Verbrecherorganisation dafür, dass nur noch von ihr autorisierte Morde begangen wurden. Die Zahl der Gewaltverbrechen ging deshalb drastisch zurück.

Ein anderes Beispiel: In jüngster Zeit mehren sich anekdotische Berichte, dass kriminelle Banden in der Pandemie staatlich auferlegte Kontakt- und Mobilitätssperren überwachen; die Mafia gibt die Gesundheitspolizei. Einige Banden helfen der von Covid-19 wirtschaftlich gebeutelten Bevölkerung in ihrem Umfeld mit Lebensmitteln. Im mexikanischen Michoacán tauchte jüngst ein Video auf, das zeigte, wie Mitglieder des Los-Viagras-Kartells Plastiktüten gefüllt mit Lebensmitteln ausgaben.

Ein Forscherteam aus Entwicklungsökonomen und Politikwissenschaftlern wollte genauer wissen, wo, wann, warum und wie Gangs neben ihrem Kerngeschäft öffentliche Dienstleistungen anbieten und damit quasistaatliche Rollen übernehmen. Die Forschung führte sie nach Medellín in Kolumbien, früher ein Zentrum des internationalen Drogenhandels. Obwohl Medellín deutlich sicherer geworden ist, leidet die Stadt immer noch an einer großen Dichte organisierter Kriminalität. In den Vierteln agieren sogenannte “Combos”. Sie verkaufen Drogen, pressen Geschäftsleuten “Steuern” ab und regulieren den Handel mit Lebensmitteln wie Eiern.

Die Forscher interviewten in Medellín über vier Jahre Dutzende Führungskräfte von 31 Gangs. Sie befragten 7000 Bürger. Schließlich gewannen sie die Stadtverwaltung für ein Experiment: Die Stadt schickte Mitarbeiter in einige Viertel, wo sie die Bewohner auf öffentliche Dienstleistungen und staatliche Programme aufmerksam machten. Die Idee dahinter war, die Gangs als Ordnungsmacht zu verdrängen. Weil die Leute von der Stadt nur bestimmte Viertel regelmäßig aufsuchten, andere aber nicht, konnten die Forscher Vergleiche anstellen.

In den armen Vierteln im Nordosten und im äußersten Westen wurden die Banden als zentrale Anbieter öffentlicher Dienste wahrgenommen. An sie wendeten sich die Bürger, wenn es Ärger gab, wenn Schulden nicht bezahlt wurden oder wenn der Lärm zu lästig wurde. Diese Viertel waren, als illegale Siedlung entstanden, oft weniger gut von der Stadtverwaltung versorgt.

Doch die “Combos” regierten nicht nur in den Slums, sondern auch in Vierteln der Mittelschicht. Die Forscher stießen zum Beispiel auf einen Bandenchef, der neben seinem kriminellen Kerngeschäft eine Berufsschule, ein Recycling-Zentrum und eine Badeanstalt für die Leute in seinem Viertel errichtet oder gegründet hat.

Die “Combos” verhielten sich allerdings nicht alle gleich. Einige kümmerten sich um ihre Mitbürger. Sie schlichteten Streit, sorgten dafür, dass die Straßen gesäubert und Schulden bezahlt wurden. Andere dagegen hielten sich heraus und konzentrierten sich aufs Kriminelle. “Das ist eine rein geschäftliche Entscheidung”, sagt der Entwicklungsökonom Christopher Blattman: Wenn sie sich mehr um die Belange der Leute kümmerten, konnten sie höhere “Steuern” abpressen. Die Positionierung als ordnende Hand stärkte zudem ihre Legitimität und erleichterte es ihnen, ihre kriminellen Geschäfte in Diskretion abzuwickeln. Die Polizei konnte nicht auf Zeugen hofften, deren Loyalität die Banden gewonnen hatten.

Die klassische Vorstellung lautet, dass Gangs in die Bresche springen, wo der Staat wegen Inkompetenz, Korruption oder aus anderen Gründen versagt. Blattman und seine Kollegen machten jedoch die Entdeckung, dass die Banden als ordnende und helfende Macht besonders aktiv in Vierteln waren, wo die Stadtverwaltung ebenfalls starke Präsenz zeigte. Die Beamten konnten die Gangster nicht verdrängen. Enttäuschung über staatliche Dienstleistungen spielt dabei offenbar eine Rolle. In manchen Fällen ergänzten sich Gangs und staatliche Stellen sogar.

Angesichts dieses Befundes hätte man erwarten können, dass die Banden Covid-19 nutzen, um ihre Position als Ordnungsmacht zu stärken. Blattman und Kollegen konnten aber kein starkes Engagement entdecken. Weder setzten sie Ausgangssperren durch, noch gaben sie ihren Nachbarn Hilfe. Selbst Gangs, die gewöhnlich eine starke Position in ihren Vierteln haben und soziale Leistungen anbieten, hielten sich überwiegend zurück. Ausnahmen waren rar. Die Banden, die sich oft aus bitterarmen Familien rekrutierten, hatten offenbar genug mit sich selbst zu tun. In dieser Notlage verließen sich die Leute wieder stärker auf die offizielle Verwaltung. Blattman und seine Forscherkollegen sehen darin eine Chance für die Behörden, Legitimität zurückzugewinnen.
 
Christopher Blattman, Benjamin Lessing et al.: Crime in the time of COVID-19: How Colombian gangs responded to the pandemic. EDI COVID-19 Essay Series, 2020.
Christopher Blattman et al.: Gangs of Medellín: How Organized Crime is Organized. Working Paper, 2019.
 

1 Lesermeinung

  1. Revresbo sagt:

    Die neolithische Revolution und der ganze nachfolgende Schlamassel
    Es ist schwer zu ertragen – trotzdem müssen wir die Beobachtung und Deutung der Wirklichkeit als unsere Realität erkennen und akzeptieren. Die sizilianische Mafia z. B. war ursprünglich eine Inkasso-Gesellschaft für Abgaben der feudalen Grundherren, deren Vorfahren ihr “feudum ” von früheren Herrschern erhalten hatten. Nach der Grund- und Boden-Reform hat sie ihr Geschäftsmodell den neuen Gegebenheiten anpasst.

    Diese wenigen Satzteile

    “… damit quasistaatliche Rollen übernehmen.”, “… pressen Geschäftsleuten ‘Steuern’ ab … “, “… Gangs als Ordnungsmacht”, “… ‘höhere Steuern’ abpressen”, “… Banden als ordnende und helfende Macht”, “…ergänzten sich Gangs und staatliche Stellen”, “… ihre Position als Ordnungsmacht zu stärken.”

    aus dem Beitrag bestätigen Paul C. Martins Satz vom 02.08.2002: “Was die Mafia im Kleinen, ist der Staat im Großen” – er lässt sich nur mithilfe des Debitismus und der Machttheorie verstehen.

    Die neolithische Revolution als Übergang von Gemeinschaften der Jäger und Sammler zu sesshaften Ackerbau und Viehzucht betreibenden Bauern-Gesellschaften jenseits der ‘Dunbar Zahl’ als theoretische ‘kognitive Grenze’ der Anzahl an Menschen, mit der eine Einzelperson soziale Beziehungen unterhalten kann, markiert die entscheidende Wende in der Menschheitsgeschichte.

    Es ist der Übergang von egalitären Stammesgemeinschaften hin zu hierarchischen, auf Abgabenzwang beruhenden, überwiegend patriarchalischen Zivilisationsgesellschaften. Seit der Zerschlagung des gemeinschaftlichen Miteinanders auf der Grundlage des Gewohnheitsrechtes trägt der Mensch kein ‘eigenbestimmtes Potential’ mehr in sich, da sein Potential systematisch von einer zentralinstanziellen Ordnung geraubt und neu geordnet wird. Uwe Wesel zeigt, dass alle Rechte in dieser Ordnung auf Machtzessionen der Zentralmacht (z.B. Eigentumsrechte) – als Struktur einer Ordnung von Potenzialen und Möglichkeiten – beruhen. Die abgabenpflichtigen Untertanen befinden sich gegenüber der Zentralmacht letztendlich in einer Ohnmachtsposition der absoluten Unterlegenheit.

    Die entstehende neue Ordnung ist nicht das Ergebnis der sozialen Übereinkunft und des zwischenmenschlichen Konsenses der Untertanen, sondern wird durch Waffengewalt zentralinstanzlich durch die Worte charismatischer Führer mit ihrer Entourage erzwungen. ‘Gesellschaftsvertrag’, volonté géneral, ‘Verfassungen’, usw. sind nur schöne Märchen. Dürfen wir die Verfassung für die zukünftigen VSE (= Brüsseler Prinzipat) selber schreiben und einführen?

    Überlebenszeit und -fähigkeit der Ordnung können nur aus ‘auf Gewalt’ basierenden Verschuldungs- und Besicherungsfähigkeiten ableitet werden. Die den Bürgern mittels Machtzessionen eingeräumten Rechte (Rechtsstaat, ‘Wohlstand für alle’, usw.) sind Simulationen – sie dissimulieren nur die wahren Hintergründe des aus Gewalt hervorgegangenen und auf Gewalt beruhenden Systems. Sie haben aus debitistischen Gründen keinen dauerhaften Bestand. Dieser den Untertanen auferlegte Zwang zur Abgabeneinheit zwecks notwendiger Besicherung der debitistisch nicht tilgbaren Erstverschuldung, die sich aus der Notwendigkeit der Vorfinanzierung der staatlichen Instanzen zwecks Staatsgründung ergibt und aus der sich die Aufgabe und der Sinn aller Zivilisationen ergibt, kann einerseits gedeutet werden als das zivilisatorische ‘Urverbrechen’ – in Jean Baudrillards Sinne vielleicht als ‘perfektes Verbrechen’ – oder andererseits jenseits der ‘Dunbar Zahl’ als evolutionäre Notwendigkeit zur Sicherstellung der Tilgung der menschlichen Lebensnotwendigkeiten (Naturalien usw.) im Sinne der von Paul C. Martin definierten individuellen ‘Urschuld’.

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