Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Der Entschuldungsmythos

Kann der Staat wirklich aus seinen Schulden herauswachsen? Das klappt nicht so gut wie erhofft. Von Winand von Petersdorff

 

Die jüngere Debatte über die Staatsschulden der Vereinigten Staaten und ihre Gewichtung wird stark beeinflusst durch Arbeiten der Ökonomen Olivier Blanchard, Larry Summers und Jason Furman. Sie kommen, grob gesagt, zu dem Schluss, dass Staatsschulden keine Last sind, wenn der reale Zins auf die Schulden kleiner ist als die Wachstumsrate der Wirtschaft. Dann nämlich kann die Regierung auslaufende Darlehen einfach durch neue ersetzen. Die ökonomisch relevante Schuldenquote, also das Verhältnis von Staatsschulden zur Wirtschaftsleistung sinkt im Verlauf der Zeit. So kann ein Land aus seiner Schuldenlast herauswachsen.
 
Dieses neue Denken hat den Staatsschulden den Schrecken genommen. Blanchards Analyse der Nachkriegszeit hatte offenbar Einfluss auf diese Neubewertung. Die Schuldenquote der Vereinigten Staaten stieg von 42 Prozent im Jahr 1941 auf 106 Prozent in 1946. Dann aber fiel sie bis 1974 auf 23 Prozent. Der Nobelpreisträger und Kolumnist Paul Krugman interpretierte die Entwicklung mit den Worten, die Schulden des Krieges seien nie zurückgezahlt worden, sie seien schlicht irrelevant geworden, weil die amerikanische Wirtschaft so schnell gewachsen sei.
 
Die historische Erfahrung birgt die Hoffnung, dass Amerika das aktuelle Schuldenniveau auf dem Nachkriegsrekord ohne große Schmerzen hinter sich lassen könnte. Oder ist das doch alles nur Wunschdenken?
 
In der Tat offenbart ein schärferer Blick, dass die Befreiung von den Schulden nicht allein auf Wachstum zurückzuführen war. Tatsächlich kommen die Ökonomen Julien Acalin und Laurence Ball in einer neuen Untersuchung zu dem Ergebnis, dass andere Faktoren deutlich wichtiger waren für die Schrumpfung der amerikanischen Schuldenquote.
 
Als Erstes ist die gute alte Haushaltsdisziplin zu nennen. Von der Nachkriegszeit bis 1974 herrschte der politische Konsens in Washington, dass die Einnahmen der Bundesregierung den Ausgaben wenigstens annähernd entsprechen sollten. Schon im Jahr 1947 legte die Regierung einen primären Haushaltsüberschuss vor. Die Einnahmen sollten die um Zinszahlungen reduzierten Ausgaben in den meisten Folgejahren bis 1974 übersteigen. Der Primärüberschuss betrug in diesen Jahren zwischen 3,5 Prozent der Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt, BIP) und minus 1,5 Prozent. Im Durchschnitt entsprach der Überschuss von 1947 bis 1974 rund 1,1 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. Damit allein schrumpfte die Schuldenquote.
 
Der zweite Faktor waren Zwangsmaßnahmen der amerikanischen Regierung, die von Ökonomen in der Rubrik “finanzielle Repression” eingeordnet werden. Das amerikanische Finanzministerium wollte die Finanzierung der Kriegskosten beherrschbar halten. Es vereinbarte mit der amerikanischen Notenbank, der Federal Reserve (Fed), dass diese zu intervenieren hatte, wenn die Rendite kurzlaufender Staatsanleihen von 0,375 Prozent abzuweichen drohte. Die dreißigjährigen Anleihen sollten durch die Fed bei 2,5 Prozent Rendite gekappt werden. Wenn Investoren für neue Staatsanleihen bessere Verzinsung verlangten, dann kaufte die Fed zur vereinbarten Benchmark. Damit hielt sie Zinsen künstlich niedrig.
Das Arrangement engte damit allerdings den Spielraum der Fed zur Inflationsbekämpfung ein. Vor allem staatliche Preis- und Lohnkontrollen hielten die Teuerung im Zaum. Diese wurden nach dem Krieg weitgehend aufgegeben – mit spürbaren Folgen.
 
Die Regierung pochte gegen wachsenden Widerstand der Notenbanker darauf, dass diese Politik einer garantierten Verzinsung auch nach dem Krieg fortgesetzt werde. Erst 1951 konnte sich die Notenbank aus der Umklammerung befreien. Eines ihrer Argumente war, dass die künstlich niedrigen Zinsen die teilweise hohe Nachkriegsinflation begünstigten. Anders als erwartet, war in den Nachkriegsjahren nicht, wie nach dem Ersten Weltkrieg, eine Konjunkturkrise die größte wirtschaftspolitische Herausforderung, sondern die Teuerung, der die Federal Reserve wenig entgegenzusetzen hatte. Die Notenbanker glaubten zunehmend und mit wachsendem Missmut, dass sie mit ihrer Zinspolitik die Inflation produzierten.
 
1951 kam es nach einem politischen Showdown zwischen dem Finanzministerium und den Notenbankern zu einem Kompromiss, der darauf hinauslief, dass die Fed die Finanzierung von Regierungsanleihen nicht mehr zu stützen hatte. Allerdings wirkte die alte Verklammerung noch lange Jahre fort: Ein großer Teil der unter dem alten Arrangement ausgegebenen Staatsanleihen hatte Laufzeiten von bis zu 30 Jahren. In Phasen hoher Inflation war der Realzins für einige Staatsanleihen deutlich negativ.
 
Als dritten Faktor für die Reduzierung der Schuldenlast identifizieren die Forscher die (überraschende) Inflation. Ein höheres Preisniveau reduziert den realen Wert der Schulden und das Verhältnis von Schulden zum BIP, weil die höheren Preise das nominale BIP erhöhen.
Acalin und Ball haben in Modellrechnungen ermittelt, wie groß die Effekte der Faktoren Haushaltsdisziplin, finanzielle Repression und Inflation seit 1946 waren. 50 der 83 Prozentpunkte, um die die Schuldenquote zwischen 1946 und 1974 fiel, sind nach Berechnung der Autoren auf diese drei Faktoren zurückzuführen.
 
Seit 1975 steigt die Schuldenquote vor allem infolge wachsender Haushaltsdefizite. Steuersenkungen zu verschiedenen Zeitpunkten, besonders ausgeprägt unter Präsident Ronald Reagan, und dramatische Mehrausgaben während der Finanzkrise und der Pandemie blähten die Defizite auf. Dazu kommt aber, dass seit 1979 der unverzerrte Realzins größer sei als die Wachstumsrate, rechnen die Autoren vor. Das steht im Widerspruch zur Kernaussage Olivier Blanchards, die lautet, dass die Wachstumsrate im Nachkriegsamerika in der Regel den Realzins überstiegen hat. Ein wichtiger Unterschied: Die Autoren nutzen die realen Zinszahlungen der Regierung, während Blanchard den seit 1979 niedrigeren Marktzins zugrunde legt.
 
Die Autoren schließen mit der Feststellung, es bleibe möglich, dass eine Volkswirtschaft aus ihren Staatsschulden herauswachse, wenn die Wachstumsrate den Realzins übersteigt. Allerdings sei der Beitrag schwächer als erhofft. “Die Geschichte sollte uns nicht optimistisch stimmen, dass man aus seinen Schulden herauswachsen kann.”
 
 
Literatur:
 
J. Acalin & L. Ball: “Did the U.S. really grow its way out of its WWII debt?” 2022.
R. L. Hetzel & R. F. Leach: “The Treasury-Fed Accord: a new narrative account”. 2001.