Große Vorkommen an natürlichen Ressourcen gelten für die Länder als Glücksfall. Die Gefahren werden oft übersehen. Von Jürgen Kaube
Eine politische Phrase von anscheinend ewigem Leben ist die Behauptung, unser einziger Rohstoff sei die Bildung, wir hätten keinen anderen. Dieser Spruch, der tausendfach am Beginn von Reden zu Schulen und Hochschulen steht und Investitionen in Bildung begründen soll, ist doppelt unsinnig. Zum einen enthält er die Behauptung, Bildung sei ein Rohstoff. Aber was soll das sagen? Man kann sie nicht abbauen, sie wächst auch nicht natürlich nach. Bildung ist Arbeit, angewandte Intelligenz, die Fähigkeit zur Beobachtung, zu Geduld und zum Nachdenken, ein Gefühl für Qualität. All das unterscheidet sie stark von Öl, Gas, Kohle, Kupfer und Bäumen.
Zum anderen enthält der Satz, wir seien arm an solchen natürlichen Ressourcen und darum auf Bildung angewiesen, eine absurde Implikation. Nämlich die, rohstoffreiche Länder hätten gegenüber rohstoffarmen einen wirtschaftlichen Vorteil. In Zeiten der komplizierten Energiewende und eines Krieges, der aus den Bodenschätzen finanziert wird, scheint diese Annahme umso plausibler. Und tatsächlich gibt es Nationalökonomien wie die der Vereinigten Staaten und Australiens, deren Entwicklung zu großen Anteilen durch die Nutzung von großen Rohstoffvorkommen angeschoben wurde.
Typisch sind diese Länder für das Schicksal rohstoffreicher Nationen nicht. Vor dreißig Jahren erschien eine ökonomische Untersuchung, die das Gegenteil behauptet. Der britische Wirtschaftsgeograph Richard M. Auty legte sie 1993 unter dem sprechenden Titel “Nachhaltige Entwicklung in Mineralwirtschaften: Die These vom Ressourcenfluch” vor. Einen solchen Fluch der Rohstoffausstattung erkennt Auty in der Entwicklung rohstoffreicher Länder nach dem Zweiten Weltkrieg. Weder haben in diesem Zeitraum große Flächenstaaten eine günstigere Entwicklung genommen als kleine Länder. China, Indien, Brasilien und Mexiko blieben hinter den rohstoffarmen Ländern Südkorea und Taiwan zurück. Überall dort, wo es Ölvorkommen gibt, war es mit der Herausbildung einer modernen Ökonomie ebenfalls nicht weit her. Die Mitgliederliste der Organisation erdölexportierender Staaten liest sich nicht wie die eines Vereins für Modernisierung: Saudi-Arabien, Irak, Iran, Nigeria, Venezuela, Angola, Algerien.
Ein Viertel aller Entwicklungsländer, so Auty, erzielt 40 Prozent ihrer Exporterlöse aus dem Verkauf von Brennstoffen und Metallen. Seine Studie konzentriert sich auf die südamerikanischen Exporteure von Kupfer (Chile, Peru), Zinn (Bolivien) und Bauxit (Jamaika). Er zeigt, wie solche Länder mit einer dominanten Rohstoffindustrie überaus abhängig sind vom internationalen Bedarf, mit anderen Worten: weniger flexibel in ihrer Industriepolitik. Man ist externen Schocks wie Rohstofffunden in anderen Weltgegenden oder technischer Substitution durch synthetische Stoffe stark ausgesetzt.
Oft wurde das aus dem Rohstoffverkauf resultierende Einkommen deshalb dazu eingesetzt, eigene junge Industriezweige zu subventionieren. Das hielt diese aber unter einem Schutzschirm vor internationalem Wettbewerb und ließ sie, im Vergleich zu rohstoffarmen Ländern, nur langsam zu hohen Kosten reifen. Dieser Nachteil änderte sich auch nicht, als die Bedeutung multinationaler Unternehmen im Rohstoffabbau einzelner Länder durch Verstaatlichungen zurückgedrängt wurde. Weder der Sozialismus noch die Kartellbildung in Form der OPEC lösten ökonomische Modernisierungsschübe in den Mitgliedstaaten aus.
Die Gründe für den Fluch, der von Ressourcenreichtum ausgeht, sind vielfältig. Große Rohstoffvorkommen tendieren dazu, aus einer Volkswirtschaft eine Rentenökonomie zu machen. “Rente” ist hier als arbeitsloses oder wenig arbeitsintensives Einkommen zu verstehen. Man holt, salopp gesprochen, den Reichtum aus dem Boden, und das war es dann auch schon. Über das gegenwärtige Russland heißt es in diesem Sinne, es sei eine Tankstelle mit einer Armee. Man hat im engeren Sinne keine Industrie und bleibt technologisch auf das Ausland angewiesen.
Die Extraktion der Rohstoffe ist außerdem kapitalintensiv und beschäftigt nur einen geringen Teil der Bevölkerung. Damit fällt auch der Reichtum, der aus ihr erzielt wird, zumeist nur bei sehr wenigen an und führt nicht zu Massenkaufkraft. Die staatlichen Einnahmen durch Steuern auf Rohstoffverkäufe sind oft der einzige Nutzen, den die Volkswirtschaft aus diesem sie dominierenden Sektor zieht. In Ländern, die keine Ressourcenökonomien sind, entwickeln sich hingegen am Rand der großen Industrien zahllose mittlere und kleine Unternehmen der Zulieferung oder der Dienstleistung.
Unter dem Titel “Dutch Disease”, Holländische Krankheit, hatten die Ökonomen Max Corden und Peter Neary zehn Jahre vor Auty ein Modell vorgelegt, das die nachteiligen Folgen von großen Rohstoffexporten für ein Land skizziert. Die Exporterlöse, beispielsweise durch Verkauf von Öl, führen danach zu einem vermehrten Zufluss ausländischer Devisen und mithin zu einer Aufwertung der inländischen Währung. Das verbilligt Importe, macht die Produkte der eigenen Industrie relativ teuer und schadet dadurch der einheimischen Industrie, deren Waren zunehmend durch solche aus dem Ausland ersetzt werden. Der historische Fall, den Corden und Neary vor Augen hatten, war die Schwächung des industriellen Sektors in den Niederlanden in der Folge von neu entdeckten Erdgasvorkommen.
An dieser Holländischen Krankheit kann eine Voraussetzung für ökonomische Nachteile aus Rohstoffreichtum veranschaulicht werden. Denn weshalb sprechen wir nicht von einer Norwegischen Krankheit, obwohl das Land äußerst rohstoffreich ist? Vermutlich deshalb, weil Norwegen die ausländischen Devisen nicht dem inländischen Konsum zugeführt hat, sondern in ausländischen Investitionen anlegt. Das nimmt den Aufwertungsdruck von der eigenen Währung. Diese Strategie setzt jedoch politische Umstände voraus, durch die der verführerische inländische Zugriff auf die Gewinne aus dem Brennstoffhandel gebremst wird. Viele rohstoffreiche Länder sind aber Diktaturen, denen es, vom Druck der Wiederwahl entlastet, schwerfällt, eine von den Interessen einer kleinen Oberschicht unabhängige Wirtschaftspolitik zu verfolgen.
Rohstoffarmut ist, so gesehen, kein Übel. Rohstoffreichtum ist vielmehr ein Problem, weil er zur Annahme verführt, der Wohlstand einer Nation liege im Boden und müsse nur herausgeholt werden. Die arabischen Ölstaaten mit ihren Wüstenstädten und Luxuszonen mögen ein Bild abgeben, das diese Annahme bestätigt. Aber weder sind sie für die Lage rohstoffreicher Länder exemplarisch, noch geht der dortige Reichtum mit Freiheit einher. So könnte man die politische Phrase umformulieren: Wir brauchen Bildung nicht, weil wir keine Rohstoffe haben, sondern weil wir frei sein wollen.
Richard M. Auty: Sustaining Development in Mineral Economies: The resource curse thesis”, London 1993; Max W. Corden: “Booming Sector and Dutch Disease Economics: Survey and Consolidation”, Oxford Economic Papers 36 (1984)