Kein Platz im Rettungsboot: Eine neue Studie widerlegt der Hoffnung, dass soziale Normen wie das Hilfegebot für Frauen und Kinder bei Schiffsunterglücken halten. Das Bild vom selbstlosen britischen Gentleman, der Frauen und Kindern den Vortritt lässt, stimmt wohl nicht. Die Ereignisse beim Untergang der Titanic waren nicht-repräsentativ.
Von Philip Plickert
Es war kurz vor zwei Uhr nachts, als eine heftige Erschütterung die Birkenhead durchrüttelt. Das britische Truppentransportschiff hatte am 25. Februar 1852 wenige Kilometer vor Kapstadt einen Felsen gerammt, der nicht auf der Karte eingezeichnet war. Rund 640 Menschen waren an Bord des Dampfschiffs, darunter auch eine Gruppe von Frauen und Kindern der Offiziere – sie alle schwebten in Lebensgefahr. Durch ein riesiges Leck schossen Wassermassen in die unteren Decks, mehr als hundert Soldaten ertranken in ihren Schlafkojen. Die restlichen Soldaten sammelten sich an Deck. Ihre Pferde ließen sie ins Wasser, damit sie die zwei Meilen ans Ufer schwämmen, aber bald schon griffen Haie an. Nur drei Rettungsboote waren funktionsfähig, viel zu wenige für alle Passagiere.
“Frauen und Kinder zuerst!”, schrie Oberstleutnant Alexander Seton. Er zog dabei drohend seinen Säbel, berichtete ein Augenzeuge. Da ließen die Soldaten den Frauen und Kindern den Vortritt. In den Booten war kaum noch Platz. Wer schwimmen konnte, sprang dann ins Wasser, andere klammerten sich an Wrackteile. Sowohl der Kapitän Robert Salmond als auch Seton ertranken. Nur ein Drittel der männlichen Schiffspassagiere überlebten das Schiffsunglück. Dagegen wurden alle Frauen und Kinder gerettet.
Der Ausruf “Women and Children first!” (WCF) gilt seitdem als Ausdruck einer höchst altruistischen sozialen Norm des britischen Gentlemans, der sein Leben gibt, um andere zu retten. Auch beim Untergang der Titanic vor hundert Jahren erhielten Frauen und Kinder bevorzugt Plätze in den zwanzig Rettungsbooten, die nur für die Hälfte der 2207 Passagiere ausreichten. Rund 1500 Menschen ertranken im eiskalten Wasser. Nur 20 Prozent der männlichen Passagiere, aber mehr als 72 Prozent der Frauen und fast 50 Prozent der Kinder überlebten.
Sozialwissenschaftler und Ökonomen interessieren sich für das Extremereignis, weil es ihnen Auskunft über menschliches Verhalten in lebensgefährlichen Situationen gibt. Der eigennützige “Homo oeconomicus” würde zwischen Kosten und Nutzen abwägen und sich wohl für die Devise “Jeder rette sich selbst” entscheiden. In ihrer Panik trampeln die Passagiere übereinander, kräftigere Männer schubsen Frauen beiseite. Die Besatzung, die sich auf dem Schiff am besten auskennt, schafft es als Erste in die Rettungsboote. Ein rein egoistischer, skrupelloser Menschentyp verhält sich so. Die Katastrophe der Titanic liefert indes Indizien, dass soziale Normen stärker waren.
Zwei Stunden und vierzig Minuten dauerte der Untergang der Titanic, nachdem sie den Eisberg gerammt hatte. Nach Ansicht der Ökonomen Bruno Frey, David Savage und Benno Torgler, die mehrere aufsehenerregende Studien über die Titanic-Katastrophe geschrieben haben (wobei es eine wissenschaftliche Rüge gab, weil sie die Ergebnisse mehrfach verwerteten), war der Faktor Zeit entscheidend, dass die sozialen Normen intakt blieben und die Stärkeren den Schwächeren halfen. Im Fall der Lusitania, die 1915 nach einem Torpedotreffer innerhalb von nur 18 Minuten sank, ging alles so rasend schnell, dass die Überlebensinstinkte dominierten und Männer keine Rücksicht auf Frauen nahmen.
Auf der Titanic hingegen, wo der Kapitän den WCF-Befehl ausgab, habe sich die soziale Norm durchgesetzt. Frauen hatten so, verglichen mit Männern, wenn man für Alter und Reiseklasse kontrolliert, eine um 53 Prozent höhere Überlebenschance, fanden Frey, Savage und Torgler heraus. Frauen mit Kindern hatten sogar eine 65 Prozent höhere Überlebenschance. Besonders interessant sind nationale Unterschiede: Die Briten, die an Bord die große Mehrheit darstellten, hatten eine um bis zu 9 Prozent geringere Überlebenschance als Amerikaner. Die Forscher mutmaßen, dass sie mit “steifer Oberlippe” den Untergang stoisch ertrugen und Frauen und Kinder besonders vorließen.
Leider entlarvt nun eine neuere Studie zweier schwedischer Ökonomen das angebliche ritterliche Verhalten als Legende. Mikael Elinder und Oscar Erixson von der Universität Uppsala haben erstmals eine viel größere Datensammlung über 18 Schiffsunglücke seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bis 2011 zusammengetragen und analysiert, wer von den insgesamt 15 000 Passagieren überlebte. Ihr Befund: Was auf der Titanic passierte, war in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Es sei “nicht repräsentativ für Schiffsunglücke im Allgemeinen”.
Tatsächlich ergaben die Regressionsanalysen, dass Frauen eine viel geringere Überlebenswahrscheinlichkeit haben als Männer (17,8 gegenüber 34,5 Prozent), wenn sich auch die Unterschiede seit hundert Jahren etwas eingeebnet haben. Seitdem haben sich die Geschlechterrollen geändert; Frauen können eher schwimmen und tragen leichtere Kleidung. Trotzdem gilt bis heute: Männer sind physisch stärker und retten sich eher selbst, Frauen sterben häufiger.
Zugleich entlarvt die Analyse den Gentleman-Mythos. Auf britischen Schiffen hatten Frauen geringere Überlebenschancen (bis zu 15 Prozentpunkte niedriger) als auf Schiffen anderer Nationen, fanden Elinder und Erixson heraus. Auch gebe es keinen Zusammenhang zwischen dem Tempo des Schiffsuntergangs und der Wirksamkeit von sozialen Normen. “Zusammengenommen zeigen unsere Untersuchungsergebnisse, dass das Verhalten in Leben-und-Tod-Situationen am besten durch den Ausdruck ,Jeder für sich’ erfasst werden kann”, schreiben die schwedischen Ökonomen.
All das mag traurigerweise so sein. In Extremsituationen dominiert der egoistische Überlebenstrieb. Immerhin ergab die Analyse auch, dass eine starke Führerfigur an Bord die Chancen der Schwächeren beeinflussen kann. Gab der Kapitän den “Frauen und Kinder zuerst!”-Befehl (was bei immerhin fünf der achtzehn Schiffsunglücke der Fall war), dann stiegen deren Überlebenschancen um 7 Prozentpunkte. Der tapfere Kapitän Salmond und Offizier Seton von der Birkenhead haben vielleicht doch einen bleibenden Eindruck hinterlassen.
Literatur:
Bruno S. Frey, David A. Savage, Benno Torgler: Behavior under Extreme Conditions: The Titanic Disaster, Journal of Economic Perspectives 4/2010
Mikael Elinder, Oscar Erixson: Every man for himself! Gender, Norms and Survival in Maritime Disasters, IFN Working Paper Nr. 913, April
Der Beitrag erschien zuerst als “Sonntagsökonom” in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Die Illustration stammt von Alfons Holtgrefe