Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Der Mainstream gewinnt!

Die herrschende Wirtschaftslehre stößt auf viel Kritik. Sie besitzt immer noch Schwächen. Aber es gibt nichts Besseres auf dem Markt der ökonomischen Theorien, zumal sich der Mainstream den wichtigen neuen Fragestellungen öffnet. Von Gerald Braunberger

Die herrschende Wirtschaftslehre stößt auf viel Kritik. Sie  besitzt immer noch Schwächen. Aber es gibt nichts Besseres auf dem Markt der ökonomischen Theorien, zumal sich der Mainstream den wichtigen neuen Fragestellungen öffnet.

 

Von Gerald Braunberger

 

 

“Always it is better to travel than to arrive.”

“The science of economics does not provide simple
 answers to complex social problems.”

Der Nobelpreisträger Paul A. Samuelson

 

 

Die seit fünf Jahren grassierende Wirtschafts- und Finanzkrise hat viele Zweifel an der herrschenden Wirtschaftslehre geweckt. Dies ist völlig zurecht geschehen. Wann, wenn nicht in schweren Krisen, sind Zweifel an der herkömmlichen Weisheit so naheliegend? Das Unbehagen führte unter anderem zur Wiederbeschäftigung mit alten Meistern und hier vor allem mit John Maynard Keynes, Friedrich von Hayek und Hyman Minsky. Zudem betraten Vertreter randständiger Lehren – genannt seien die Freiwirtschaftslehre Silvio Gesells, sonstige Zins- und Zinseszinsverächter sowie die österreichische Schule – mit auf volle Lautstärke gestellten Megaphonen die öffentliche Bühne. Die deutsche Volkswirtschaftslehre gönnte sich einen sogenannten “Methodenstreit“.

Fünf Jahre Illustration: Alfons Holtgrevenach dem Beginn der Krise lässt sich ein (Zwischen-)Fazit ziehen: Die herrschende Lehre gewinnt, obwohl sie immer noch mehr als genügend Schwächen besitzt. Sie gewinnt nicht, weil den Leuten mit dem Megaphon über der endlosen Wiederholung ihrer immer gleichen Phrasen in der Zwischenzeit anscheinend der Strom ausgegangen ist. Sie gewinnt nicht, weil die deutschen Traditionalisten den Methodenstreit nicht für sich entscheiden konnten. Die herrschende Lehre gewinnt nicht alleine, weil sie wenn auch vielleicht nicht alle, so aber doch viele wichtige Erkenntnisse der Altmeister längst inkorporiert hat. Sie gewinnt nicht ausschließlich, weil sie die große Mehrheit der Lehrstühle an den Universitäten und die führenden Fachzeitschriften dominiert. Sie gewinnt vor allem, weil sie anpassungsfähig ist und sich den relevanten offenen Fragen stellt. Das macht sie so interessant für forschende Wissenschaftler und für eine interessierte Öffentlichkeit.

Die herrschende Lehre besteht nicht aus einer umfassenden, in sich geschlossenen Großtheorie. Sie besteht aus einer Vielzahl von Teiltheorien wie unter anderem einer einzelwirtschaftlichen (“Mikroökonomik”) und einer gesamtwirtschaftlichen (“Makroökonomik”) Theorie, der Institutionenökonomik und der Finanztheorie, die mehr oder weniger miteinander verbunden sind. Diese Teiltheorien sind keine monolithischen, seit einer Ewigkeit erstarrten Gebilde, sondern im Prinzip aufnahmefähig für neue Erkenntnisse. Wäre der Mainstream nicht seit rund 100 Jahren in der Lage, sich für neue Einflüsse zu öffnen, hätte er möglicherweise gar nicht überlebt.

Die Akkumulation neuen Wissens geschieht nicht immer kontinuierlich und hin und wieder mit erheblicher Verzögerung. Manchmal sind eher ideologisch als streng wissenschaftlich motivierte Auseinandersetzungen zu beobachten, es gibt Versuche der Monopolisierung scheinbar gesicherter Erkenntnisse. Selbstverliebtheit in das Geschaffene lässt sich ebenso beobachten wie die mutwillige Ausklammerung all dessen, was nicht in die eigene Modellwelt passt. Vieles ist allzu menschlich. Aber wenn sich die Mehrheit der Ökonomen zu sicher war über der Weisheit ihrer Erkenntnisse, sorgte eine Krise für neues Nachdenken.

Und natürlich geht es auch in der Gegenwart voran: Viele Jahre dachten die meisten Ökonomen, Wirtschaftsgeschichte sei entbehrlich. Heute legen Mainstream-Ökonomen wie Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff (neben anderen) eine finanzhistorische Untersuchung nach der anderen vor. Viele Jahre dachten die meisten Ökonomen, die optimale Geldpolitik bestehe in der Steuerung der Inflationsrate und habe sich nicht um Spekulationsblasen an Vermögensmärkten zu kümmern. Heute ist die Zahl der von Mainstream-Ökonomen in den vergangenen Jahren verfassten und noch in Arbeit befindlichen Untersuchung zur Bedeutung von Spekulationsblasen für die Geldpolitik kaum mehr übersehbar. Seit drei Jahrzehnten erkannten die meisten Ökonomen der Geldpolitik in der Krise eine konjunkturanregende Wirkung zu, der Finanzpolitik aber nicht. Zahlreiche Mainstream-Ökonomen befassen sich längst wieder mit der Frage, ob Finanzpolitik nicht auch eine konjunkturanregende Rolle spielen kann. Rund drei Jahrzehnte hatten Chicago-Leute wie Gene Fama eine Finanztheorie dominiert, in der rationale Marktteilnehmer an effizienten Märkten hantierten. In der aktuellen Debatte über moderne Finanztheorie sind die Menschen nicht immer rational und die Märkte nicht immer effizient.Eine der großen Aufgaben der Gegenwart besteht in der Verbindung einer primär realwirtschaftlich fundierten Konjunkturtheorie mit der Welt der Banken und der Finanzmärkte.

In der aktuellen Debatte um eine effizientere Regulierung von Banken und Finanzmärkten stammen die wichtigsten Vorschläge von Mainstream-Ökonomen ebenso wie zu der Frage, welche Institutionen künftig Fehlentwicklungen an Finanzmärkten beaufsichtigen sollen. Markus Brunnermeier, Professor an der Princeton University und einer der profiliertesten jungen deutschen Ökonomen, hat kürzlich die Leitung eines Instituts übernommen, das sich unter anderem mit diesen Themen befasst.

Moderne Verteilungsökonomen wie Thomas Piketty und Emmanuel Saez gelangen zu aufregenden Erkenntnissen über die ökonomischen Konsequenzen von Steuern. In der Institutionenökonomik wurden jüngst bedeutende Arbeiten veröffentlicht wie das Buch von North/Wallis/Weingast über die Rolle der Gewalt für die Bildung sozialer Ordnungen (hier ist eine Rezension und hier folgt eine Zusammenfassung.) Die Liste ließe sich fortsetzen. Manches in der Ökonomik, zum Beispiel die Frage nach den Determinanten langfristigen Wirtschaftswachstums (hier dargestellt in einem modernen Lehrbuch), gilt als einigermaßen befriedigend geklärt und ist kaum noch ernstlich umstritten.Keine alternative Theorie könnte den Anspruch einlösen, sich derart umfassend mit aktuellen wirtschaftlichen Problemen auseinander zu setzen wie der Mainstream.

Vieles bleibt aber noch immer zu tun, wie anhand eines Beispiels gezeigt sei. Eine Workshop bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) hat sich kürzlich mit den Folgen der Käufe von Staatsanleihen durch Zentralbanken wie die Fed oder die Bank of England befasst. Man gelangte zu der ernüchternden Erkenntnis, dass solche Untersuchungen mithilfe der modernen ökonomischen Theorie überhaupt nicht möglich sind, während frühere Granden wie die Nobelpreisträger Milton Friedman und James Tobin (hier ist Tobins “Klassiker” zu diesem Thema) auf diesem Gebiet sehr wohl gearbeitet haben. Ihre Erkenntnisse gelten (wirklich zurecht?) heute als veraltet, aber neue Erkenntnisse sind noch Mangelware. So bleibt der Mainstream eine lebendige Wissenschaft, in der unablässig Neues entdeckt und Altes wiederentdeckt werden muss – und kann.

Oder, um mit einem weiteren Bonmot Paul Samuelsons zu schließen: “Each new theorem, each new insight, is like money in the bank, waiting to be drawn upon in some quite unexpected connection.”

Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Version des “Sonntagsökonom”, der am 10. Juni 2012 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen ist. Die Illustration stammt von Alfons Holtgrefe.

Die Samuelson-Zitate sind entnommen aus: Paul Samuelson. On being an Economist. Herausgegeben von Michael Szenberg, Aron Gottesman und Lall Ramrattan. New York 2005 (Jorge Pinto Books)

 

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