Wer zahlt in Deutschland Steuern? Glaubt man den Leuten an Stammtischen, in Lesezirkeln und auf Sportplätzen, dann sind das nicht die Reichen. Die nutzen viele Steuertricks und setzen die seltsamsten Ausgaben von der Steuer ab, so dass sie am Ende viel weniger Geld versteuern müssen, als sie eigentlich verdienen – so glauben es viele. Am Ende wird die Progression im Steuersystem unterlaufen. Der Gedanke leuchtet ja auch sofort ein: Das deutsche Steuerrecht umfasst mehr als 11.000 Seiten an Gesetzen, Erlassen und Richtlinien. Da stecken genügend Ausnahmen drin, die nur Leute mit einem guten Steuerberater nutzen können. Könnte man glauben.
Stimmt das? Und wie viel macht das aus? Drei Forscher wollten es genau wissen. Am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung und an der Freien Universität Berlin guckten sie sich die Einkommensteuer-Statistik ausführlich an. Und schlugen alles wieder drauf, das die Leute einst in ihrer Steuererklärung mit viel Aufwand abgesetzt hatten: Steuersparmodelle für Immobilienbesitzer und Steuerbefreiungen für Selbständige, aber auch die Kosten für das häusliche Arbeitszimmer, die Pendlerpauschale und die Steueranreize für Lebensversicherungen. All das berücksichtigen Stefan Bach, Giacomo Corneo und Viktor Steiner. Das erstaunliche Ergebnis: Es sind gerade die Leute mit geringem Einkommen, die ihre Steuerlast besonders drücken können.
Die Ärmeren versteuern nicht mal die Hälfte ihres Einkommens
Wenn die ärmere Hälfte der Deutschen mit ihrer Steuererklärung fertig ist, versteuert sie nicht mal mehr die Hälfte ihres Einkommens. Denn viele Steuer-Ausnahmen sind zwar klein, ändern sich aber nicht mit dem Einkommen und schlagen bei kleinen Einkommen entsprechend stärker zu Buche: der Sparerfreibetrag, der die ersten paar hundert Euro Zinsen steuerfrei stellt. Die Werbungskosten-Pauschale, die dafür sorgt, dass der Steuerzahler jährlich 1000 Euro weniger versteuern muss. Und manchmal kommt auch noch die Pendlerpauschale dazu. Einige Einkünfte sind von vornherein steuerfrei, zum Beispiel Nachtzuschläge oder Teile der Rente. Das alles fällt bei kleinen Einkommen stärker ins Gewicht als bei großen.
Am Ende versteuern die Reichen, verglichen mit den Ärmeren, mehr als den doppelten Anteil ihres Einkommens. Die ärmere Hälfte der Deutschen zahlt Steuern auf 40 Prozent des Einkommens, das reichste Tausendstel auf 90 Prozent des Einkommens. Nur die Superreichen mit einem Einkommen über zwei Millionen Euro im Jahr, ziemlich genau die oberen Zehntausend in Deutschland, können mittels Immobilien noch mal etwas mehr Steuern sparen und müssen nur noch rund 80 Prozent ihres Einkommens versteuern. Das aber ist immer noch das Doppelte des Anteils, den die ärmere Hälfte erreicht.
Natürlich sind auch die Steuersätze der Reichen höher. So kommt es, dass die ärmere Hälfte der Deutschen auf ihr Gesamteinkommen durchschnittlich nur rund zwei Prozent Steuern zahlt, die Reichen aber bis zu 39 Prozent. So wirkt das Steuersystem nach allen Abzugsmöglichkeiten noch progressiver als vorher.
Nun hat die Studie der drei Berliner Forscher immer noch einige Unschärfen. Ihre jüngsten Daten stammen aus dem Jahr 2005, weil Steuerbescheide lange brauchen und ihre statistische Auswertung oft noch länger dauert. Zudem bleibt so manches Steuersparmodell übrig, das sich ein kreativer Steuerzahler ausdenken kann und das die Forscher nicht erfassen können. Kriminelle Steuerhinterziehung entgeht ihren Daten. Wer das Land ganz verlässt, zahlt in Deutschland sowieso keine Steuern, taucht also auch nicht in der Steuerstatistik auf. Schwierig sind auch Selbständige, denn bei ihnen ist die Abgrenzung zwischen privaten und betrieblichen Ausgaben immer unscharf. Das allerdings gilt für reiche Selbständige ebenso wie für arme Selbständige.
Die Reichen haben von der Steuerpolitik kaum profitiert
Doch alles in allem haben die Reichen in Deutschland von der Steuerpolitik des Landes – anders als oft gedacht – kaum profitiert. In einem internationalen Vergleich haben die bekannten Steuer- und Ungleichheitsforscher Emmanuel Saez, Thomas Piketty und zwei ihrer Kollegen gezeigt, dass fast alle Industrieländer die Spitzensteuersätze seit 1960 deutlich gesenkt haben – mit weit mehr Dynamik als in Deutschland (wobei manche Länder auch von weit höherem Niveau gestartet sind). Nur die Schweiz und Spanien haben die Spitzensteuersätze demnach konstanter gehalten als Deutschland.
Auch hier liegt der Verdacht nahe, dass in Deutschland die Ausnahmen die entscheidendere Größe sind als die Steuersätze. Was neue Ausnahmen angeht, haben die Armen in Deutschland stärker profitiert als die Reichen. Das gilt zumindest für die Jahre 1992 bis 2005, die die drei Berliner Forscher genauer angeschaut haben.
Sie haben in ihren Zahlen nämlich nebenbei entdeckt, dass zwischen 1992 und 2005 immer mehr Ausnahmen und Absetzmöglichkeiten dazugekommen sind, vor allem während der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder. Davon profitierten die Leute in der oberen Mittelschicht und der Oberschicht überhaupt nicht. Die neuen Ausnahmen nutzten nur den Allerreichsten und – vor allem – den Ärmeren. Der durchschnittliche tatsächliche Steuersatz der Reichsten fiel in diesen 13 Jahren um ein knappes Drittel, für die ärmere Hälfte der Deutschen sank er sogar um die Hälfte.
Und das ist bei aller Unschärfe der Zahlen eine Folgerung, welche die Studie der drei Berliner Forscher auf jeden Fall zulässt: Die Reichen mögen ihre Steuerspartricks haben, doch für die Armen gibt es mindestens genauso viele.
Der Beitrag ist der “Sonntagsökonom” aus der F.A.S. vom 11.8.2013.