Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

“Genug zum Leben”. Oder: Wie wir uns gegenseitig das Leben schwer machen

Der Mindestlohn ist in der Diskussion, weil arbeitende Leute genug zum Leben haben sollen. Wie viel Geld braucht man dazu? Gar nicht so wenig. Und wir treiben diese Grenze gemeinsam immer höher.

© dpaEssen allein reicht nicht.

“Wer arbeitet, muss davon leben können” – so heißt es in Deutschland heute. Da stimmen Angela Merkel zu, die Gewerkschafter sowieso, und plötzlich wird der Mindestlohn zum Thema von Koalitionsverhandlungen. Das Problem scheint weit verbreitet zu sein. “Kaum jemand kann mit einem Job-Gehalt wirklich im Alltag auskommen”, findet FAZ.net-User Wolkenlos.

Da bleibt eine wichtige Frage offen: Wie viel ist das überhaupt, genug zum Leben? Wenn wir den unterschiedlichen Ansätzen folgen, stellen wir schnell fest: Wir machen uns das Leben gegenseitig schwer. Weil wir einander die Latte immer höher legen.

1. Wie viel wir brauchen, hängt von unseren Nachbarn ab

Beginnen wir mal mit der Antwort der Philosophen. Amartya Sen hat betont, dass es nicht nur darauf ankommt, wie viel Geld man hat. Sondern auch, was man damit machen kann. Auf seinem “Capability Approach” basieren Wohlstandsindizes wie der “Human Development Index” – aber auch da fehlt eine klare Liste, was man zum Leben braucht.

Profaner ist da die Weltbank. Sie zieht Armutsgrenzen zwischen 1,25 und 2 Dollar am Tag – und freut sich, dass nach diesen Maßstäben immer weniger Menschen arm sind. In einem industrialisierten Land wie Deutschland kommt man damit nicht gut über die Runden, so viel ist klar.

Aber was braucht man dann? Braucht man genug Geld für fließend Warmwasser? Drei Hosen? Einen Computer? Eine Spülmaschine? Ein iPhone? Einen Jahresurlaub im Ausland? Und wenn ja, wie weit muss man wegfliegen können?

© Martin RavallionWächst das Einkommen, wächst die Armutsgrenze

Martin Ravallion liefert einen Hinweis mit einer Studie. Er hat die Armutsgrenzen in unterschiedlichen Ländern zusammengetragen. Dabei wird deutlich: In den armen Ländern ist die Armutsgrenze weitgehend unabhängig vom Einkommen. Aber wenn die Länder reicher werden, steigt die Armutsgrenze umso höher, je höher das Einkommen wächst (wenn auch die Armutsgrenze langsamer wächst als das Einkommen im Land).

So kommen wir zu einem Begriff, den wir schon aus der politischen Diskussion kennen: das so genannte “soziokulturelle Existenzminimum”. Armut ist nicht absolut. Das Existenzminimum ist der Betrag, der nicht nur fürs nackte Überleben ausreicht, sondern auch ausreicht, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Aber wie viel ist das jetzt wieder?

In Deutschland können wir probeweise den Hartz-IV-Satz heranziehen. Der wird genau so relativ berechnet. Grob zusammengefasst: Das Statistische Bundesamt erfragt die Ausgaben der ärmsten 20 Prozent der Deutschen. Dann werden noch einige Posten abgezogen, damit Hartz IV nicht ganz an den Lebensstandard der anderen heranreicht. Insgesamt liegt der Hartz-IV-Satz dann 130 Euro niedriger als die Konsumausgaben der ärmsten 20 Prozent, wie Irene Becker für die Hans-Böckler-Stiftung ausgerechnet hat. (Allerdings fallen sind Hartz-IV-Empfänger auch von einigen Kosten befreit.) Es war die Regierung, die beschlossen hat, was nicht zum soziokulturellen Existenzminimum gehört. Zum Beispiel:

  • Schmuck
  • Tabakwaren
  • Schnittblumen

Wenn man aber weiß, dass das soziokulturelle Existenzminimum  vom Einkommen der Armen abhängt, dann ist auch klar: Mit zusätzlichem Geld lässt sich das Problem der Armen nicht beheben. Nehmen wir an, es käme ein Mindestlohn. Sagen wir, es gingen nicht mal Arbeitsplätze verloren. Dann würde mancher Deutsche aus dem ärmsten Fünftel mehr verdienen. Bald würden wir das Existenzminimum höher ansiedeln. Hartz IV würde steigen. Und bald würden sich die Mindestlohn-Empfänger ähnlich arm vorkommen wie zuvor. Denn fix ist nur eines: der Unterschied zwischen dem Hartz-IV-Satz und den übrigen Einkommen. So würde der Mindestlohn die Latte für alle höher legen.

2. Wir haben nie genug

Den gleichen Mechanismus gibt es bei höheren Einkommen. In Familien zum Beispiel. Sie stellen oft fest, dass ihnen das Geld kaum reicht für all das, was heute so für die Kinder nötig ist. Aber was ist heute nötig? Eine Spielekonsole? Ein 21-Gang-Fahrrad? Der Schulausflug ist natürlich nötig. Aber muss der nach Rom führen oder in den Schwarzwald? Das wird von der Klasse gemeinsam festgelegt. Schon das zeigt, wie abhängig unsere Standards von denen der Nachbarn sind.

© Picture AllianceExistenzminimum?

Gehen wir mal spazieren, in den kleinen Taunusorten vor den Toren Frankfurts. Dort steht fast in jedem Garten ein kleines Trampolin. Ohne kann sich bald keine Familie mehr sehen lassen. Im Taunus, so scheint es, gehört bald schon das Trampolin zum soziokulturellen Existenzminimum.

So bleibt es immer. Wenn mehr Geld da ist, wird mehr Geld ausgegeben. Den Familien reicht das Geld kaum für alles, was sie ihren Kindern Gutes tun wollen. So sind Familien einfach: Sie geben all ihr Geld für ihre Kinder aus. Und die anderen Familien tun das auch. Auch wenn Familien mehr Geld bekämen, würden sie ihren Konsumkrieg führen. Nur auf höherem Niveau. Es gilt der alte Satz: Wie gut wir uns fühlen, hängt stark davon ab, ob wir mehr Geld haben als die anderen oder nicht.

Und damit sind wir zurück bei unserem User „wolkenlos“, der feststellt, dass das Geld den meisten nur gerade so zum Leben reicht. Was erwarten wir, wenn wir diesen Mechanismus kennen? Dass die meisten Leute mit ihrem Geld gerade so hinkommen. Gut möglich, dass sich der Zustand nie ändern wird.

3. Selbst der Lebensstil der anderen macht unser Leben schwer

Nutzer “Wolkenlos” bringt uns auf noch eine wichtige Frage. Er betont, dass ein Gehalt im Alltag nicht reicht. Wie ist es denn, wenn zwei Ehepartner verdienen? Und wenn sich dieses Modell in vielen Ehen verbreitet, so wie in den vergangenen Jahren? Dann steigt das soziokulturelle Existenzminimum, und Alleinverdiener haben’s wieder schwerer. Auch so setzen sich gesellschaftliche Normen durch.

Hartz IV wird danach berechnet, wie viele Köpfe in einer Familie sind. So ist das mit dem Arbeitslohn zum Glück noch nicht, es würde auch die Arbeitsmarktchancen von Eltern erheblich verschlechtern. Offen bleibt also die Frage: Wenn man von seiner Arbeit leben können muss – müssen das dann auch die Kinder können? Eine ganze Familie, inklusive Hausfrau oder Hausmann? Und wie viele Kinder? Das pendelt sich auch danach ein, welchen Lebensstil die Nachbarn haben. Und wie viele Kinder. Danach bemisst sich nämlich, wie viel Geld sie für jedes Kind ausgeben können – und wie hoch die Latte für andere Familien liegt.

4. Das Leben wird leichter, wenn der Staat seine Transfers versteckt

Im industrialisierten Westen der Welt braucht man eigentlich noch deutlich mehr Geld, als wir glauben. Im Blog “Ökonomenstimme” hat Werner Vontobel ausgerechnet: Würde tatsächlich jeder Deutsche komplett für seine eigenen Kosten aufkommen inklusive Ärzten, Krankenhäusern, Schulen, Rente undsoweiter – dann bräuchte man 18,50 Euro, um von der eigenen Arbeit leben zu können. Nur für eine Person. So viel verdienen viele nicht. Das allein zeigt, wie illusorisch die Vorstellung ist, jeder müsse von seiner Hände Arbeit leben können.

Doch die indirekten Transfers zählt seltsamerweise niemand mit. Als unangemessenes Geld vom Sozialamt gilt nur, was als Geldstrom aufs eigene Konto kommt. Alle Sachleistungen werden schnell als Anrecht betrachtet.

Es gilt also auch: Je mehr Transfers der Staat verschwiemelt, desto niedriger ist der Betrag, der fürs soziokulturelle Existenzminimum nachher ausgerechnet wird. Und desto niedriger liegt die Latte. Vielleicht sind Sachleistungen deshalb so beliebt.


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