Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Leistungsbilanzsalden und Finanzkrisen

Leistungsbilanzüberschüsse gehen mit Kapitalexporten einher. Entsteht in den Defizitländern eine Überschuldung, kann der Ausbruch einer systemgefährdenden Finanzkrise drohen. Spätestens dann werden die Salden auch eine politische Angelegenheit. Die Geschichte liefert hierfür einprägsame Beispiele.

Die Debatte über die deutschen Überschüsse in der Leistungsbilanz und ihre Folgen wogt hin und her. Ich möchte mich auf einen Aspekt beschränken, der zumindest in Deutschland wenig beachtet wird.

 

Ein paar Grundlagen am Anfang: Die Wettbewerbsfähigkeit einer Wirtschaft beeinflusst die Höhe der Exporte, während der Leistungsbilanzsaldo, also der Saldo von Exporten und Importen, wesentlich von der Höhe und der Verwendung der Ersparnisse abhängt. *)

 

Leistungsbilanzüberschüsse gehen mit einem Kapitalexport einher. Wenn Deutschland mehr Güter und Dienstleistungen exportiert als importiert, werden gleichzeitig deutsche Ersparnisse ins Ausland gebracht. Umgekehrt geht in einem Land ein Leistungsbilanzdefizit mit einer Kapitaleinfuhr einher. Baut ein Defizitland (oder mehrere Defizitländer) eine immer höhere Auslandsverschuldung auf, kann daraus eine potentiell systemgefährdende Finanzkrise entstehen, die Überschussländer zwingt, zur Stabilisierung des Finanzsystems Zahlungen bereit zu stellen.

Diese Erkenntnis ist alles andere als neu. Systemgefährdende Finanzkrisen können sehr unterschiedliche Ursachen besitzen, wie ein Blick auf die “big ten financial bubbles” in Charles Kindlebergers Standardwerk über die Geschichte der Finanzkrisen “Maniacs, Panics and Crashes” verrät. So trug die berühmte Tulpenspekulation des Jahres 1636 in den Niederlanden überwiegend einen nationalen Charakter; mit internationalen Leistungsbilanzsalden lässt sie sich nicht erklären. Leistungsbilanzsalden – und die damit verbundenen Salden der Kapitalbilanz – haben aber sehr wohl eine Rolle in mehreren bedeutenden Finanzkrisen gespielt. Hier sind vier Beispiele:

1. Die Krise der Barings Bank

© WikimediaDie Gründer der Barings Bank auf einem Gemälde von Sir Thomas Lawrence

Im Jahre 1890 – wir befinden uns im Zeitalter der Goldwährung – drohte die damals sehr bedeutende Londoner Barings Bank umzufallen. In London befürchtete man, ein Untergang von Barings würde weitere Londoner Banken umwerfen mit unkalkulierbaren Folgen für  Großbritannien und die Weltwirtschaft; immerhin war London das mit Abstand wichtigste Finanzzentrum der Welt. Die Bank of England tat sich mit Geschäftsbanken sowie den Zentralbanken aus Frankreich und Russland zusammen und rettete Barings. Vorausgegangen war eine starke Stellung des Hauses Barings in der Finanzierung Argentiniens.

Argentinien galt damals als ein wirtschaftlich vielversprechendes Land und es zog sehr viel Auslandskapital an: “It absorbed roughly 11 percent of all new issues in the new London market between 1884 and 1890 and 40 to 50 percent of all lending that occurred outside the United Kingdom in 1889. In contrast, North America had a population 20 times Argentina’s and floated only 30 percent of the new issues in London.”  (Mitchener/Weidenmier). Dem heftigen Kapitalimport stand ein sehr hohes Defizit in der Leistungsbilanz entgegen: “The current account deficit, as a percent of GDP, averaged 20 percent from 1884 to 1889.”  Industrienationen hatten folgerichtig einen Leistungsbilanzüberschuss mit Argentinien.

Obgleich viel Auslandskapital in eigentlich sinnvoll erscheinende Infrastrukturprojekte floss, wurde Argentinien von seiner Auslandsverschuldung übermannt. Das Land war vermutlich seit 1888 überschuldet, was aber kaum jemand mitbekam. 1890 brach die Krise dann zur Überraschung vieler Leute offen aus, als die Barings Bank argentinische Wertpapiere nicht mehr zu angemessenen Preisen verkaufen konnte und an den schnell an Wert verlierenden Papieren unterzugehen drohte.

Die Londoner Rettungsaktion unter Einbeziehung mehrerer Zentralbanken stabilisierte den Finanzplatz London. Argentinien ließen die Gläubiger alleine: Das Land stürzte in eine tiefe Rezession, die auf andere lateinamerikanische Länder ausstrahlte.

2. Die Lateinamerika-Krisen der achtziger Jahre

Seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts floss viel Geld aus den Industrienationen nach Lateinamerika, darunter nach Mexiko. Dies geschah überwiegend in Form von Bankkrediten; die Anleihemärkte waren damals weitaus weniger entwickelt als heute. Nicht nur besaßen manche Zielländer Rohstoffe; sie versuchten auch, industrielle Kapazitäten aufzubauen.

Wie es so geht, waren die Kapitalimporte der lateinamerikanischen Länder mit Leistungsbilanzdefiziten einher gegangen. Das Leistungsbilanzdefizit Lateinamerikas gegenüber dem Rest der Welt stieg im Zeitraum von 1972 bis 1982 von 2,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf 5,5 Prozent. Gleichzeitig kletterten die Auslandsschulden Lateinamerikas von 19 auf 46 Prozent des BIP. Diese Zahlen sehen aus heutiger Sicht nicht exorbitant aus, aber bei einer schwachen Wirtschaft, hohen Zinsen und unterentwickelten Kapitalmärkten können sie schon zu hoch sein. In Lateinamerika braute sich ein Unwetter zusammen, aber wiederum bekam man in den Industrieländern nichts mit.

Im Jahre 1982 bat das Schuldnerland Mexiko gegenüber dem großen Gläubigerland Vereinigte Staaten scheinbar überraschend um ein Schuldenmoratorium. (Der damals bei der Fed beschäftigte Ökonom Richard Koo hat berichtet, wie die Zentralbanken der führenden Industrienationen die Geschäftsbanken damals zum Stillhalten bewegten.) Damit die Banken aus den Industrienationen, die Kredite an Mexiko in ihren Büchern hatten, nicht in die Bredouille gerieten, wurden damals im wesentlichen die Fälligkeiten der Kredite weiter in die Zukunft geschoben, indem man die Laufzeiten verlängerte. Mexiko sollte Reformen unternehmen und sich wirtschaftlich erholen, um dann die Kredite ordnungsgemäß zurückzuzahlen.

Die Erholung fand in Mexiko wie in anderen lateinamerikanischen Ländern nicht im erhofften Maße statt und so schwelte die Krise jahrelang vor sich hin, obgleich IWF und Weltbank finanzielle Hilfen leisteten. Ende der achtziger Jahre waren alle Beteiligten zu dem Schluss gekommen, dass nur eine großflächige Umschuldung Lateinamerika in die Lage versetzen konnte, eine gedeihliche wirtschaftliche Entwicklung einzuschlagen.

Der nach dem damaligen amerikanischen Finanzminister benannte “Brady-Plan” sah eine Vielzahl von Elementen vor, darunter die Streichung von Schulden, die Umwandlung von Schulden in Eigenkapital, weitere Laufzeitstreckungen sowie die Umwandlung bestehender Kredite in neue Anleihen, die dauerhaften Wert erhielten, weil die Vereinigten Staaten sie mit eigenen Staatswertpapieren, den sogenannten “Brady-Bonds” besicherten. In gewissem Sinne stellten die Vereinigten Staaten ihre Bilanzsumme, sprich ihre Wirtschaftskraft, für Garantien zugunsten der Defizitländer bereit und verhinderten somit, dass die in den Büchern westlicher Banken befindlichen Forderungen an Lateinamerika vollends ihren Wert verloren. ***)

3. Die Asienkrise der Jahre 1997/98

In den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts war im Westen viel von den sogenannten “Tiger-Staaten” die Rede: Gemeint waren ostasiatische Länder wie Thailand, Südkorea, Malaysia, Singapur und die Philippinen, in denen sich ein kräftiges Wirtschaftswachstum entwickelte. Dieser Boom führte in einem Umfeld mit schwach entwickelten Kapitalmärkten zu der bekannten Kombination aus Kapitaleinfuhren und Leistungsbilanzdefiziten sowie stark steigenden Preisen an Aktien- und Immobilienmärkten. Typisch auch für die Vorgeschichte solcher Krisen war, dass viele Banken der Region langfristige Ausleihungen kurzfristig im Ausland refinanziert hatten. Diese Entwicklungen blieben der Welt nicht verborgen, wurden aber mit der Attitüde “In Asien ist alles anders” weggewischt.

Im Jahre 1997 brach dann, ausgehend von Thailand, eine von vielen Beobachtern im Westen überwiegend  nicht erwartete schwere Krise aus. Nach der Krise schrieb der Ökonom Rainer Schweickert in einer Studie: “Aber Südostasien ist nicht anders, wenn es um die Erklärungen für krisenhafte Entwicklungen der Leistungsbilanz geht, und – vor wenigen Jahren hätte man diesen Satz wohl nicht geschrieben – Südostasien hätte von den lateinamerikanischen Erfahrungen sehr viel lernen können.” ****)

Die Krise erstreckte sich bis in das Jahre 1998. Die Krisenländer erhielten finanzielle Hilfen vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und damit indirekt von den westlichen Industrienationen. Nach 1998 erholte sich die Region wirtschaftlich wieder.

4. Die Krise in der Eurozone

Die sogenannte Eurokrise ist nicht ausschließlich, aber zu einem guten Teil auch eine Krise, die aus der Herausbildung hoher Salden in der Leistungs- und Kapitalbilanz von Ländern entstand. In den ersten Jahren der Währungsunion strömten viele Ersparnisse auf der Suche nach rentablen Anlagen aus dem Norden in den Süden der Währungsunion, zum Beispiel von Deutschland nach Spanien und dort nicht zuletzt in den Immobilienmarkt. Dieser Prozess ebnete nicht nur die Anleiherenditen zwischen beiden Ländern ein, sondern erlaubte es Spanien, dank der Kapitalzuströme ein erhebliches Leistungsbilanzdefizit aufzubauen, der kurz vor Ausbruch der Krise bei rund 10 Prozent des BIP im Jahr lag. Umgekehrt zeigte die deutsche Leistungsbilanz einen erheblichen Überschuss im Verkehr mit Spanien. Auch hier gilt wie bei vielen Krisen zuvor: Viele langfristige Finanzierungen in Spanien waren kurzfristig refinanziert – und große Bedenken in der Öffentlichkeit gab es vor Krisenausbruch nicht.

Der Ausbruch der Krise hatte erhebliche Konsequenzen zur Folge: Nicht nur zogen Kapitalanlager aus dem Norden kurzfristiges Geld aus dem Süden ab; Großanleger aus dem Süden verlagerten aus Gründen der Sicherheit Geld in den Norden. Man hat vermutlich selten eine derartig kurzfristige Veränderung einer Leistungs- und Kapitalbilanz gesehen wie in Spanien: Hatte die Leistungsbilanz vor wenigen Jahren noch ein Defizit von rund 10 Prozent des BIP ausgewiesen, liegt es heute bei rund Null! Entsprechend hat sich auch der Saldo der Kapitalbilanz weitgehend ausgeglichen. Realwirtschaftlich ging dieser Prozess mit einer Rezession in Spanien einher und mit Druck auf die Anleihenrenditen in Deutschland.

Wie in anderen Krisen zuvor drohten die an der Finanzierung der Kapitalbilanzsalden beteiligten Banken nach der Krise in Not zu geraten; die Passivseite ihrer Bilanz bereitete ihnen Sorgen. Betroffen hätte dies Banken nicht nur in Spanien, sondern auch in anderen Ländern des Euroraums. Wie in anderen Krisen kam die Hilfe von den Gläubigern in Gestalt der öffentlichen Hand: Im Falle der Eurokrise stabilisierten die Kreditbeziehungen zwischen nationalen Zentralbanken innerhalb des Eurosystems über das Zahlungssystem Target 2 die durcheinander geratenen Finanzmärkte. Diese sogenannten Targetsalden sind seitdem deutlich zurückgegangen, aber auch immer noch deutlich höher als vor Ausbruch der Krise.

Und was kommt? Vielleicht eine Krise in den “Fragile Five”?

Wer sich die aktuellen Überschüsse in der deutschen Leistungsbilanz anschaut, wird feststellen:

– Der Saldo mit dem Rest der Eurozone ist nahe Null. (In den Kommentaren weist André Kühnlenz darauf hin, dass dies Eurostat-Zahlen sind und die Bundesbank-Zahlen (noch) einen kleinen deutschen Überschuss zeigen.)

– Wir haben einen kleinen Leistungsbilanzüberschuss mit dem Rest der Europäischen Union (ohne Eurozone).

– Wir haben sehr hohe Leistungsbilanzüberschüsse mit dem “Rest der Welt”. Das sind einerseits die Vereinigten Staaten, aber nicht zuletzt auch Schwellenländer.

Schwellenländer gelten seit Jahren in den Industrienationen als ein lohnenswertes Ziel für die Kapitalanlage, auch wenn die Turbulenzen der vergangenen Monaten an manchen Märkten etwas Zweifel geweckt haben könnten. Seit einigen Monaten wird an den Finanzmärkten für fünf dieser Länder  – Brasilien, Indonesien, Indien, Türkei und Südafrika – die Bezeichnung “Fragile Five”, unter anderem wegen ihrer Leistungsbilanzen, verwendet. Dort muss keine schwere Krisen entstehen, aber vielleicht kann man im Westen ja künftig etwas genauer hinschauen, wem man sein Geld anvertraut. Damit es nach Ausbruch der nächsten Krise nicht wieder heißt: “Ach Du Schreck. Wie hätte man dies ahnen können?” *****)

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*) Die Kollegen vom schweizerischen Blog “Never mind the markets” haben die volkswirtschaftlichen Zusammenhänge in einem sehr lehrreichen Beitrag zusammengefasst: Hier ist der Link.
**) Die Literatur zur Barings-Krise ist sehr umfangreich. Ich zitiere aus dieser Quelle.
***) Es gibt – übrigens gerade amerikanische – Fachleute, die der Ansicht sind, dass auch die Schuldenkrise in Europa eines Tages durch eine Art “Brady-Plan” gelöst werden müsse.
****) Die Literatur zur Asienkrise ist unübersehbar. Eine – möglicherweise nicht einmal vollständige – Übersicht zeigt dieser Link.
*****) Grundsätzlich ist gegen Kapitalanlagen im Ausland gar nichts zu sagen, zumal Finanzkrisen auch im eigenen Land entstehen können. Aber es scheint, dass das “Monitoring” von Auslandsanlagen verbesserungsfähig ist.