In Deutschland regt sich die Sorge, das mit einem Beitritt Litauens im kommenden Jahr der Bundesbankpräsident zeitweise auf sein Stimmrecht im Rat der Europäischen Zentralbank verzichten müsse. Manche Politiker fordern deshalb, dass Deutschland im EZB-Rat ein permanentes Stimmrecht erhalten solle. Das hat einen nationalen Einschlag: Der Bundesbankpräsident vertritt im Rat nicht Deutschland, sondern er soll als kompetenter Fachmann die Interessen des gesamten Euroraums im Blick haben. Ist das nur eine Fiktion?
In der Geschichte der EZB ist überliefert, dass der damalige Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer sich bei der ersten Sitzung des EZB-Rats weigerte, Platz zu nehmen. Der Grund: Die EZB-Bediensteten hatten die Teilnehmer der Sitzung alphabetisch am Tisch sortiert, aber gereiht nach den Anfangsbuchstaben ihres Herkunftslandes. Tietmeyer nahm daran Anstoß, weil den Notenbankgouverneuren so ein nationaler Stempel aufgedrückt wurde. Er nahm erst Platz, nachdem die Sitzungsteilnehmer nach dem Anfangsbuchstaben ihres Nachnamens sortiert waren.
Lernen von der amerikanischen Federal Reserve
In den Vereinigten Staaten stellt sich das Problem der nationalen Herkunft der Geldpolitiker nicht. Dort sind alle Mitglieder des Offenmarktausschusses Amerikaner. Auch dort aber gibt es eine Rotation der Stimmrechte im Federal Reserve System. Vom Blick über den Atlantik lässt sich damit für das EZB-System lernen.
Jedes Jahr im Januar stehen die „Fed-Watcher“ vor der Aufgabe, die personelle Zusammensetzung des Gremiums neu zu analysieren. Denn im Januar rotiert regelmäßig das Stimmrecht in dem Gremium, das über die Geldpolitik entscheidet. Mit den Veränderungen des Kreises der stimmberechtigten Mitglieder kann sich für die kommenden zwölf Monate auch die geldpolitische Linie ein wenig verschieben. (In der EZB soll die Rotation der Stimmrechte nicht jährlich, sondern monatsweise erfolgen.)
In diesem Jahr etwa erhalten im Offenmarktausschuss die regionalen Fed-Präsidenten von Dallas, Richard Fisher, und von Philadelphia, Charles Plosser, Stimmrecht. Damit verschiebt sich das Gewicht im Ausschuss zu den sogenannten Falken, die eher zu einer strengeren Geldpolitik tendieren.
Übergewicht der Zentrale in Washington
Dem Offenmarktausschuss gehören die sieben – derzeit nur sechs – Direktoriumsmitglieder der Fed-Zentrale in Washington und der Präsident der regionalen Federal Reserve Bank von New York ständig an. Die Fed in New York führt die Offenmarktgeschäfte des Fed-Systems aus und hält den engen Kontakt zu den großen Geschäftsbanken am Finanzplatz New York. Deshalb hat sie unter den regionalen Fed-Banken eine herausgehobene Stellung, deshalb ist ihr Präsident im Offenmarktausschuss immer vertreten und sogar stellvertretender Vorsitzender.
Die weiteren elf Präsidenten regionaler Fed-Banken stellen jedes Jahr vier Mitglieder des Ausschusses und rotieren dabei. Die Präsidenten der regionalen Fed-Banken von Chicago und von Cleveland sind wegen des zumindest historisch großen wirtschaftlichen Gewichts ihrer Distrikte dabei häufiger stimmberechtigt als die anderen.
Die Rotation im Fed-System zeigt eine Besonderheit, die in Europa nicht vorgesehen ist. Die Zentrale, das Board of Governors in Washington, hat im Offenmarktausschuss immer das Übergewicht der Stimmen über den regionalen Fed-Präsidenten. Damit ist der Einfluss der Zentrale über etwaigen regionalen Interessen gesichert.
Alle dürfen mitdiskutieren
Eine weiteres Charakteristikum des Fed-Systems ist, dass alle regionalen Fed-Präsidenten – ob mit oder ohne Stimmrecht – an den Sitzungen des Offenmarktausschusses teilnehmen und mitdiskutieren können. Das soll es so auch im Euroraum geben. Der angebliche Vorteil der Stimmrechtsrotation, dass die Sitzungen wegen der kleineren Zahl an Abstimmungsberechtigten handhabbarer werden, ist damit dahin. Wenn alle Teilnehmer der Sitzung etwas sagen wollen und dürfen, spielt es keine Rolle mehr, ob sie Stimmrecht haben oder nicht: Es dauert immer noch so lange wie zuvor.
Eine dritte Besonderheit des Fed-Systems ist in der Euro-Währungsunion nicht gegeben: Die zwölf Fed-Distrikte setzen sich jeweils aus mehreren Bundesstaaten zusammen. Zum Teil durchschneiden die Grenzen der geldpolitischen Distrikte sogar einzelne Bundesstaaten. Das wäre so, als ob in Europa zum Beispiel Belgien, Luxemburg und die Niederlande ein Mitglied im EZB-Rat stellen würden, das zugleich noch für die Geldversorgung im Saarland zuständig wäre.
Als Folge der Entflechtung von politischen Grenzen und geldpolitischen Distrikt-Grenzen in Amerika gibt es keine feste Zuordnung der Geldpolitiker zu einem Bundesstaat – und entsprechend weniger Einfluss regionaler Politik auf die Geldpolitik. Das ist im Euroraum anders: die regionalen Geldpolitiker im EZB-Rat kommen immer aus einem bestimmten Land.
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